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Alison Dörnte

Dissertationsprojekt: Psychiatrie in der Nachkriegszeit: Der stationäre Alltag in der psychiatrischen Abteilung des Lübecker Krankenhauses Ost und die Medikamentenvergabepraxis 1949-1975.

Als die vom Bundestag beauftragte sogenannte Psychiatrie-Enquete 1975 ihren „Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“ vorlegte, konstatierte sie „zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnende Umstände“ in den psychiatrischen Einrichtungen der BRD.1 Die Psychiatrie-Enquete bildete eine Zäsur, nach der sich die Bedingungen in den Psychiatrien allmählich verbesserten. Diese bis weit in die 1970er Jahre und teilweise noch darüber hinaus reichenden Missstände sind bislang noch kaum historisch aufgearbeitet worden. Dazu zählt auch die Praxis der Medikamentenverabreichung in jener Zeit, als vergleichsweise viele Psychopharmaka auf den Markt kamen, aber deren Erprobung noch weitgehend ungeregelt ablief, wie durch die Publikation von Sylvia Wagner zu Arzneimittelstudien an Heimkindern 2016 in den Fokus der Öffentlichkeit geriet.2 In Schleswig-Holstein befeuerte eine umfangreiche Medienberichterstattung des NDR die gesellschaftliche Diskussion und erzeugte politischen Druck, bis ein öffentliches Symposium im schleswig-holsteinischen Landtag im Herbst 2018 sich den damaligen Praktiken widmete und den Betroffenen Anerkennung zollte.3 Wie in anderen Bundesländern ist das genaue Ausmaß der Misshandlungen auch in Schleswig-Holstein noch nicht ausreichend geklärt und eine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung erst angelaufen.

Seit Oktober 2018 wird am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck im Auftrag des schleswig-holsteinischen Sozialministeriums die Praxis der Medikamentenversuche in Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie in den Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrien in den Jahren 1949 bis 1975 untersucht.4 In der hier geplanten Dissertation soll anhand einer mikrohistorischen Analyse der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses Ost, später psychiatrische Klinik der Medizinischen Akademie Lübeck, heute Teil des Zentrums für integrative Psychiatrie (ZiP), ein ergänzender und vertiefender Beitrag zu dieser am IMGWF laufenden Forschung geleistet werden.

Anhand von Patientenakten sowie weiterer noch erhaltener archivalischer Quellen sollen etwaige Medikamentenversuche als ein Aspekt, der in seiner Breite zu untersuchenden Praxis der Medikamentengabe analysiert werden. Zudem sollen strukturelle Rahmenbedingungen der psychiatrischen Versorgung erschlossen und die Organisation des klinischen Alltags in der Psychiatrie rekonstruiert werden. Etwaige Medikamentenversuche sollen so historisch besser bewertet, in den Kontext möglicher weiterer Formen medizinischer Gewalt wie Disziplinierung oder Sedierung eingeordnet und auf ihre historischen Bedingungen hin befragt werden. 

Primäres Projektziel ist die wissenschaftliche Aufarbeitung des Archivmaterials und der Patientenakten der psychiatrischen Abteilung des damaligen Lübecker Krankenhauses Ost im Untersuchungszeitraum 1949-1975 im Hinblick auf die Alltagspraxis in der damaligen psychiatrischen Versorgung. Dabei soll untersucht werden, ob es in Lübeck allgemein zu Medikamentenversuchen kam, welche ethischen Maßstabe dabei angewandt wurden und ob bzw. welche Formen von Gewalt angewendet wurden. Die Ergebnisse sind historisch wie auch politisch von Bedeutung, da es hier um die Anerkennung möglichen Leids teilweise noch lebender Opfer geht.

Aufgrund der noch wenig erforschten Geschichte der Nachkriegspsychiatrie ist die Rekonstruktion der Alltagsgeschichte der psychiatrischen Abteilung des Lübecker Krankenhauses Ost ein Beitrag zum besseren Verständnis, wie Psychiatrie damals gelebt wurde und wie es in dieser Zeit zu Medikamentenversuchen und der einhergehenden Gewalt kommen konnte.

Betreuung: Prof. Cornelius Borck

 

1 Deutscher Bundestag, Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland — Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung (Drucksache 7/4200), Alleinvertrieb: Verlag Dr. Hans Heger Bonn (1975

2 S. Wagner, Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern, Sozial.Geschichte online 19 (2016).

3 https://www.landtag.ltsh.de/nachrichten/18_11_28_symposium_heimkinder (Tag des Zugriffs: 04.09.2019).

4 https://schleswig-holstein.de/DE/Fachinhalte/A/aufarbeitung_leid_unrecht/wissenschaftliche_aufarbeitung.html (Tag des Zugriffs: 16.05.2020).