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NORMAL#VERRÜCKT

Alterität und Störung in Psychiatrie und Literatur seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts

Die Erosion einer Semantik des Wahnsinns geht seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit einer Normalisierung, aber auch einer verstärkten Psychiatrisierung von psychischen Störungen einher. Diese Dynamik erfasste auch die Literatur, die ein ausgezeichneter Ort der Auseinandersetzung mit psychischer Alterität und Störung war und ist. In diesem Projekt sind Austauschbeziehungen, geteilte Problemstellungen, Missverständnisse und Verwerfungen im Verhältnis von Psychiatrie und Literatur aus epistemologischer, literaturwissenschaftlicher und psychiatriehistorischer Perspektive Forschungsgegenstand. Ausgehend von zeitgenössischer Kritik an psychopathologischen Konzepten und Klassifikationssystemen und der nachfolgenden Durchsetzung des Konzepts der Störung im psychiatrischen Aufschreibesystem untersucht das Projekt, wie dieser epistemische Wandel sowohl mit einer Selbstreflexion in der Psychiatrie als auch mit neuen Darstellungsoptionen von psychischer Alterität und Störung in der Literatur kommuniziert. Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist die Literatur nicht mehr der bevorzugte Ort eines Gegendiskurses zur Psychiatrie, sondern entwickelt neue Darstellungsweisen für die Alterität von Menschen mit Psychiatrieerfahrung sowie neue Spielarten der Kritik, die nicht in der Antipsychiatrie aufgehen. In diese Zeit eines epistemischen Wandels der Psychiatrie, wie er sich an der Einführung internationaler, standardisierter diagnostischer Manuale ablesen lässt, fielen auch eine Rezeption ethnopsychiatrischer Konzepte psychischer Störung und erste Auseinandersetzungen mit der internationalen Ethnographie psychischer Alterität.

Gemeinsam mit Armin Schäfer (Ruhr-Universität Bochum) leitet Cornelius Borck das Teilprojekt „Alterität und Störung in Psychiatrie und Literatur seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts“ im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „NORMAL#VERRÜCKT Zeitgeschichte einer erodierenden Differenz“.

NORMAL#VERRÜCKT: Die Geschichte der Psychiatrie ist eine Geschichte der Differenz von „normal“ und „verrückt“. Diese Differenz wird jedoch zunehmend brüchig. Das Verrückte gewinnt mit der Öffnung der psychiatrischen Anstalten und Integration der BewohnerInnen in die Gesellschaft eine alltägliche Normalität. Bislang bewährte Narrative der Psychiatriegeschichtsschreibung verlieren ihre Deutungskraft, die sich gerade jener Dichotomie verdankt, die gegenwärtig in Frage steht. Hier setzt die Forschungsgruppe an. Sie versucht nicht, eine Veränderung der Konzepte von Verrücktheit nachzuzeichnen, sondern stellt die Erosion der Differenz von normal und verrückt im Umgang mit psychischer Alterität ins Zentrum. Das gemeinsame Ziel der an der Forschungsgruppe beteiligten Projekte ist es, psychiatriegeschichtlich bislang nicht hinreichend analysierte Tendenzen als Ressource für die Zeitgeschichte zu mobilisieren.