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NORMAL#VERRÜCKT

Alterität und Störung in Psychiatrie und Literatur seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts

DFG-gefördertes Projekt von 2021 bis 2024

Gemeinsam mit Armin Schäfer (Ruhr-Universität Bochum) leitet Cornelius Borck das Teilprojekt „Alterität und Störung in Psychiatrie und Literatur seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts“ im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „NORMAL#VERRÜCKT Zeitgeschichte einer erodierenden Differenz“.

Die Erosion einer Semantik des Wahnsinns geht seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit einer Normalisierung, aber auch einer verstärkten Psychiatrisierung von psychischen Störungen einher. Diese Dynamik erfasste auch die Literatur, die ein ausgezeichneter Ort der Auseinandersetzung mit psychischer Alterität und Störung war und ist. Deshalb untersucht das Forschungsprojekt die Austauschbeziehungen, geteilte Problemstellungen, Missverständnisse und Verwerfungen im Verhältnis von Psychiatrie und Literatur aus epistemologischer, literaturwissenschaftlicher und psychiatriehistorischer Perspektive. Ausgehend von zeitgenössischer Kritik an psychopathologischen Konzepten und Klassifikationssystemen und der nachfolgenden Durchsetzung des Konzepts der Störung im psychiatrischen Aufschreibesystem untersucht das Projekt, wie dieser epistemische Wandel sowohl mit einer methodischen Selbstreflexion in der Psychiatrie als auch mit neuen Darstellungsoptionen von psychischer Alterität und Störung in der Literatur kommuniziert hat: Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war die Literatur nicht mehr der bevorzugte Ort eines Gegendiskurses zur Psychiatrie, sondern entwickelte neue Darstellungsweisen für die Alterität von Menschen mit Psychiatrieerfahrung sowie neue Spielarten der Kritik, die nicht in der Antipsychiatrie aufgingen. In dieser Zeit eines epistemischen Wandels der Psychiatrie fielen auch eine Rezeption ethnopsychiatrischer Konzepte und erste Auseinandersetzungen mit der internationalen Ethnographie psychischer Alterität.

Zum Arbeitsprogramm der Forschungsgruppe NORMAL#VERRÜCKT:
Die Geschichte der Psychiatrie ist eine Geschichte der Differenz von „normal“ und „verrückt“. Diese Differenz wird jedoch zunehmend brüchig. Einerseits gewinnt das Verrückte mit der Öffnung der psychiatrischen Anstalten und Integration der Insass*innen in die Gesellschaft eine alltägliche Normalität; andererseits werden Verhaltens- und Reaktionsweisen wie Rausch, Stress oder Aufmerksamkeitsdefizit pathologisiert und Gegenstand psychiatrischer Interventionen. Damit verlieren bislang bewährte Narrative der Psychiatriegeschichtsschreibung ihre Deutungskraft, die sich gerade jener Dichotomie verdankt, die gegenwärtig in Frage steht. Hier setzt die Forschungsgruppe an. Sie versucht nicht, eine Veränderung der Konzepte von Verrücktheit nachzuzeichnen, sondern stellt die Erosion der Differenz von normal und verrückt im Umgang mit psychischer Alterität ins Zentrum. Das gemeinsame Ziel der an der FOR beteiligten Projekte ist es, psychiatriegeschichtlich bislang nicht hinreichend analysierte Tendenzen als Ressource für die Zeitgeschichte zu mobilisieren. Umgesetzt wird dieses Ziel durch eine Dezentrierung des psychiatriehistorischen Gegenstandsfeldes, mit der jene Phänomenbereiche in den Blick genommen werden, die e-her „quer“ zu etablierten Themen liegen:

  1. Akteurskonstellationen, die neben Psychiater*innen und Patient*innen auch andere Betroffenen- und Berufsgruppen umfassen;
  2. Logiken und Räume, die neben den politischen Logiken der klassischen Institutionen und ihren herkömmlichen Alternativen auch ökonomische und partizipative Rationalitäten einschließen und somit andere Lebenswelten und künstlerische Interventionen erschließen;
  3. Methodische Zugriffe auf Praktiken und Techniken der Interaktion und Aushandlung im psychiatrischen Feld, die auch Medieneinsatz, Kommunikationsstrategien und Aneignungsweisen ein-beziehen.

Durch diese Dezentrierung der Psychiatriegeschichte will die FOR entlang auffälliger Auflösungstendenzen Elemente einer Geschichte der Transformation im Umgang mit psychischer Alterität zusammentragen, die Alternativen zur vorliegenden Fachgeschichtsschreibung aufzeigen. So will sie eine psychiatrische Zeitgeschichte nach Vorbild einer anthropology of the present entwerfen, die auch bisherige Deutungsschemata von normal#verrückten Welten einer historischen Analyse zugänglich machen will. Die Forschungsgruppe ist interdisziplinär zusammengesetzt, um die Arbeit an den Phänomenen mit ethnologisch/ethnographischen, historisch/historiographischen, wissenschaftshistorisch/wissenschaftssoziologischen sowie medientheoretischen, kultur- und literaturwissenschaftlichen Ansätzen methodisch breit abzusichern. Aufgrund ihres Gegenstandsbereichs hat sie einen medizinhistorischen Schwerpunkt und will die Bezugsdisziplinen Psychiatrie, Psychologie und Soziale Arbeit in die Forschung einbeziehen.