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Prof. Dr. med. Cornelius Borck

Hirnforschung zwischen Medientechnik und Neurophilosophie

Als in den 1930er Jahren die Registrierung der elektrischen Aktivität des menschlichen Gehirns möglich wurde, schien die Hirnforschung unmittelbar vor dem Durchbruch zu stehen. Am Apparat ließ sich verfolgen, wann sich das Gehirn auf eine geistige Tätigkeit konzentrierte bzw. diese wieder beendete. Dieser sensationelle Erfolg weckte die Hoffnung, schon bald in der elektrischen Hirnschrift den physiologischen Schlüssel zum menschlichen Geist in Händen zu halten.

Heute erzeugen die spektakulären Bilder bildgebender Verfahren ähnliche Erwartungen, weil sich mit ungekannter Detailgenauigkeit Aktivitätszonen im Gehirn vermessen lassen. Eine Reihe prominenter Hirnforscher aus Deutschland hat deshalb bereits dazu aufgerufen, die Gesellschaft auf die bevorstehenden Umwälzungen des Menschenbildes vorzubereiten und vor allem das Strafrecht an die vermeintlich bewiesene Unmöglichkeit menschlicher Freiheit anzupassen.

Zu einer neurophysiologischen Theorie des Cogito ist es gleichwohl trotz intensiver Forschungen und einer schier unüberschaubaren Fülle an Ergebnissen bisher nicht gekommen. Vielmehr drängt sich hinsichtlich dieser erstaunlichen historischen Resistenz des Streites um das Gehirn der Gedanke auf, dass mit jedem Wissenszuwachs auch das Problem komplizierter geworden sei. Die Serien von Experimentalanordnungen von der frühen Psychophysiologie bis zu aktuellen Brain-Computer-Interfaces lassen die Produktivität der Hirnforschung vor allem als Entfaltung einer Unruhezone hervortreten.

Hat also die Erforschung der Aktivität des Gehirns einen Wissensraum aufgestoßen, in dem neue Untersuchungstechniken permanent alte Selbstverständlichkeiten buchstäblich hinterfragen? Angesichts dieser Dynamik könnten sich vorschnelle Anpassungen an einen vermeintlich letzten Stand der Wissenschaft schnell als Holzwege erweisen, weil die Hirnforschung schon längst wieder eine neue Abzweigung genommen und damit ihr Objekt wieder etwas komplexer gemacht hat.

Medizinische Visualisierungsstrategien

Neue Medien revolutionierten am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur die biowissenschaftliche Forschung, sondern ließen auch neue Formen für die Verbreitung medizinischen Wissens im öffentlichen Raum entstehen.

Zeitgenössische populäre Darstellungen spiegeln diesen Zusammenhang von Medien-, Medizin- und Kulturgeschichte auf besonders „anschauliche“ Weise. Autoren und Designer wie Fritz Kahn oder Herbert Bayer entwickelten speziell zur Visualisierung physiologischer Funktionszusammenhänge eine Bildsprache, die den menschlichen Körper in der industriellen Moderne der damaligen Zeit positionierte. Dieses Bildprogramm war im Deutschland der Weimarer Republik ebenso erfolgreich wie in den USA. Die zwischen Neuer Sachlichkeit und Collagetechnik oszillierende Bildsprache veranschaulicht, wie in der Verdichtung von Gesellschaft und Experimentalwissenschaft Natur zum Kulturkonstrukt wird.

In ähnlicher Weise verschränken sich heute Medizin, Markt und Medien bei dem Projekt, sämtliche mit den diagnostischen Methoden der Medizin generierten visuellen Informationen zu einem umfassenden digitalen, virtuell navigierbaren Datensatz zusammenzufügen. War das Visible Human Project zunächst für Zwecke der medizinischen Ausbildung konzipiert und entsprechend von akademischen Einrichtungen zu Forschungszwecken betrieben worden, so ist es längst für besonders echt wirkende Animationen von der Filmindustrie entdeckt worden. Demgegenüber mutet die global erfolgreiche Zurschaustellung zu Plastik verwandelter menschlicher Organpräparate in den Körperwelten fast schon antiquiert an, zumal ihr Schöpfer so absichtsvoll die lange Tradition anatomischer Ausstellungskunst und Schaulust aufgreift.

Zeitgeschichte der Medizin

Die Zeitgeschichte der Medizin in der frühen Bundesrepublik und der DDR ist bislang noch kaum aufgearbeitet. Umgekehrt stellen die Jahre des Nationalsozialismus eine der gerade auch medizinhistorisch sehr intensiv erforschten Perioden dar. Nun ist es an der Zeit, der Frage nachzugehen, ob bzw. inwiefern das Jahr 1945 eine Zäsur markiert und wie sich die Medizin in den beiden deutschen Staaten danach entwickelt hat.

Welche gesellschaftlichen Konstellationen und kulturellen Kontexte prägten medizinisches Wissen und Handeln in der Nachkriegszeit? Und wie wirkten umgekehrt medizinische Erkenntnisse und Deutungsangebote auf die soziale und kulturelle Entwicklung der frühen Bundesrepublik bzw. der DDR? Welche Rolle spielten Demokratisierung und Westintegration von Wissenschaft und Politik für die universitäre Medizin in der Bundesrepublik bzw. die Anbindung an die Sowjetunion in der DDR? Welche experimentell-naturwissenschaftlichen bzw. klinisch-therapeutischen Kulturen entwickelten sich in der Medizin und welchen Einfluss hatten berühmte Ärztepersönlichkeiten auf die Ausdifferenzierung klinischer Kulturen? Welche Rolle spielten demgegenüber zeittypische Themen wie Kybernetik oder Stress in der medizinischen Forschung?

Bereits diese Übersicht legt den Schluss nahe, dass eine Kulturgeschichte der 50er und 60er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur unvollständig, sondern schlicht fragmentarisch bleibt, solange sie nicht die Zeitgeschichte der Medizin integriert. Im Zentrum sollen dabei zunächst vor allem die medizinanthropologisch ausgerichteten Schulen der internistischen und neuropsychiatrischen Fächer stehen.

Epistemologie des Unscheinbaren in Wissenschaft und Kunst

Wissenschaftliche Innovationen sind offensichtlich an die Realisierung von etwas Neuem gebunden. Innovative Forschung muss sich deshalb für das Unvorhersehbare bereithalten, ohne es bereits antizipieren zu können. Aber wie lässt sich etwas Neues als solches erkennen und von den gewöhnlichen Abweichungen abgrenzen, wie sie sich tagtäglich in Laboren als Störungen ereignen? Wie wird Wissenschaft auf eine Abweichung aufmerksam, die doch erst im Nachhinein als Urszene der Entstehung von etwas Neuem rekonstruierbar sein wird? Wissenschaftliches Handeln verfährt also in einer speziellen Weise experimentell, wenn es sich auf (noch) nicht objektivierbare Sachverhalte bezieht.

Die jüngere Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung hat besonders auf die materialen und sozialen Kontexte aufmerksam gemacht, in denen wissenschaftliches Handeln seine konkrete Gestalt findet, von der Interaktion mit Proben, Instrumenten und Maschinen im Labor bis zur Kooperation mit Kollegen, Assistenten oder der Öffentlichkeit. In bzw. aus diesen vielfältigen, aber im Einzelfall jeweils überdeterminierten Interaktionen materialisiert sich buchstäblich, was zum neuen wissenschaftlichen Gegenstand wird, noch bevor er als solcher objektivierbar ist. Gerade diese Unscheinbarkeit des Nicht-Objektivierbaren, aber immer schon Vermittelten steht auch im Zentrum ästhetischer Explorationen, etwa wo neue Medien zur Entfaltung, Entkopplung oder Verzerrung alltäglicher Wahrnehmung eingesetzt werden, also ebenfalls als Strategien zur Exploration des Neuen fungieren.

Lässt sich von hier aus eine Epistemologie des Experimentierens entwickeln, mit der die so oft nur behauptete Allianz von Wissenschaft und Kunst tatsächlich an der Basis ihrer materiellen bzw. medialen Praktiken analysiert und zusammengeführt werden? Welche konzeptionellen Koordinaten benötigte eine solche Epistemologie, um Experimentalkulturen wirklich transdisziplinär zu analysieren?