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Sophie Ritter

Dissertationsprojekt: Chronisch entzündliche Darmerkrankungen: Wechselnde Ätiologie-Paradigmen als Kontrollversuche (zweier) Krankheiten unbekannter Ursache

Wie kontrolliert die Medizin Krankheit? Dieser übergeordneten Frage gehe ich am Beispiel von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa nach. Wie wird ein individuelles Leiden zur definierten medizinischen Krankheitsentität, welche Erklärungsformen werden für ihren Ausbruch gefunden, welche Akteure sind daran beteiligt? Inwiefern verändern Verschiebungen in der Ursachenerklärung die Krankheit selbst? Zur Beantwortung dieser Fragen in Bezug auf chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED) untersuche ich (historische) Fachpublikationen von ihrer Erstbeschreibung bis heute.

Seit der Jahrhundertwende haben sich verschiedene medizinische Disziplinen der wissenschaftlichen Ursachen- und so auch Therapiefindung der CED angenommen, angefangen mit der Infektiologie, in deren Hochphase die Entstehung der Krankheitsentität "Colitis ulcerosa" hineinfällt und die lange die Deutungshoheit über diese Erkrankung behielt. Doch anders als beim ebenso lange beforschten und noch älteren Krankheitsbild des peptischen Magenulkus, konnte ein verursachendes Bakterium bei der ulzerierenden Darmentzündung nicht gefunden werden. Dennoch blieb das infektiologische Paradigma verlockend, sodass auch der circa fünfzig Jahre später erstbeschriebene Morbus Crohn noch auf zugrundeliegende mikrobielle Entzündungsreaktionen untersucht wurde, auch hier erfolglos. Vielversprechender schienen in den 1930 Jahren die gerade neu aufgekommenen psychoanalytischen bzw. psychosomatischen Ursachenbeschreibungen für bisher nicht erklärbare Erkrankungen. Das war nicht nur der Lösung des ätiologischen Problems der CED zuträglich, sondern auch der Etablierung dieser neuen Disziplin im medizinisch-wissenschaftlichen Feld. In engem Ringen mit der mittlerweile bestehenden Fachrichtung der Gastroenterologie, die die CED unter ihre Fittiche genommen hatte, setzte sich der psychosomatische Erklärungsansatz schließlich durch und Colitis ulcerosa (sowie später auch Morbus Crohn) wurde in den Kanon der "Holy Seven" aufgenommen. PatientInnen mit psychosomatischen CED waren nicht die gleichen, die zuvor an infektiologischen CED erkrankt waren. Auch die Symptomatik und Pathologie ihrer Erkrankungen unterschied sich. Die unter den Begriffen Colitis ulcerosa und Morbus Crohn zusammengefassten Krankheitsentitäten veränderten sich, die Begriffe blieben als Überschriften für sich wandelnde Krankheitsbilder jedoch bestehen.

Noch heute sind die CED im Wandel. Vergangene Ätiologie-Paradigmen von Infektiologie, Psychosomatik, Autoimmunität bis Genetik und Mikrobiom haben ihre Spuren im Krankheitsverständnis der MedizinerInnen und PatientInnen hinterlassen. Sie wirken nach und sind doch nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form anwendbar. Noch ist kein wissenschaftlicher Konsens zur Ursache dieser oft schwer beeinträchtigenden Erkrankungen gefunden. Doch der inhärenten Logik der Medizin nach wird weiter daran geforscht, weiter nach besseren Behandlungsmöglichkeiten gesucht und damit die Kontrolle über diese Krankheiten aus der medizinischen Perspektive aufrechterhalten. Dabei verändert jeder neue theoretische Blick auf die Ursachen der Erkrankungen seinen eigenen Beobachtungsgegenstand - also die Krankheiten selbst – beständig weiter.

Betreuung: Prof. Cornelius Borck