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Hanna Lohse (geb. Jonas)

Das Lübecker Impfunglück 1930 in der Wahrnehmung von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.

Das Lübecker Impfunglück war eine der größten medizinischen Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts. Ein Impfstoff gegen Tuberkulose wurde bei der Herstellung verunreinigt und 251 Neugeborene wurden mit Tuberkulose infiziert, 72 von ihnen starben an den Folgen. Seitdem war das Impfunglück zwar Gegenstand verschiedener Forschungen, die Betroffenen dieser Katastrophe fanden bisher aber kaum Beachtung. Das Projekt „Zeitzeugen des Lübecker Impfunglücks 1930“ schließt diese Lücke. 80 Jahre nach der Katastrophe wurde damit die letzte Gelegenheit wahrgenommen, das Wissen der damals Geimpften und ihrer Angehörigen zu bewahren. Mithilfe ihrer Erinnerungen konnten Antworten auf die Leitfrage gefunden werden, was es eigentlich bedeutete, ein sogenanntes „Calmette-Kind“ zu sein.

Nachdem im September 2011 in mehreren lokalen Medien, u. a. in den „Lübecker Nachrichten“, über die Suche nach Zeitzeugen berichtet worden war, konnten insgesamt 18 Interviews geführt werden. Acht der Gesprächspartner waren selbst BCG-geimpft worden, bei acht weiteren handelte es sich um Verwandte oder Nahestehende Geimpfter. In zwei Gesprächen berichteten Verwandte nicht über Betroffene, sondern über Akteure des Impfunglücks: Auch auf das Leben eines der beteiligten Ärzte sowie des Vorsitzenden Richters des Calmette-Prozesses hatte das Impfunglück weitreichende Auswirkungen. In allen Gesprächen wurde ein Interviewleitfaden verwendet, auf den nach einem offenen Gesprächsbeginn zurückgegriffen wurde. 16 Interviews wurden persönlich geführt, aufgenommen und anschließend wortgetreu transkribiert, zu den beiden telefonischen Gesprächen wurden Mitschriften erstellt. Außerdem wurden persönliche Archivalien der Zeitzeugen gesammelt. Die Auswertung der Interviews erfolgte angelehnt an die Methodik der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring. So konnten zunächst 18 „Porträts“ erstellt werden, in denen die Lebensgeschichte der einzelnen Betroffenen in Bezug auf das Impfunglück geordnet dargestellt wurde. Die wiederholte Analyse aller Transkripte, Porträts sowie persönlicher und allgemein zugänglicher Archivalien konnte schließlich übergeordnete Themenbereiche aufdecken.

Im Hauptkapitel der Arbeit wurden sämtliche so gewonnenen neuen Erkenntnisse zum Impfunglück und seiner Nachgeschichte anhand einer losen zeitlichen Ordnung aufgeschlüsselt: Krankenberichte, Todesanzeigen und nicht zuletzt die Erinnerungen der älteren Schwester eines Geimpften machten das Leiden der Betroffenen und ihrer Eltern in den Wochen und Monaten nach der Entdeckung der Katastrophe greifbar. Die teils schweren Erkrankungen der Säuglinge erforderten lange Krankenhaus- und Sanatoriumsaufenthalte, Eltern und Kinder wurden über Wochen und Monate voneinander getrennt. Die Verzweiflung einiger Eltern angesichts des Siechtums ihrer Kinder machte sich ein Berliner Arzt zunutze. In sein heute zu Recht vergessenes „Wundermittel“ namens „Antiphthisin“ setzten mehrere Familien ihre letzten Hoffnungen – von der kostspieligen Anwendung profitierte nur sein Erfinder. Die Eltern der geimpften Säuglinge verhielten sich nach Bekanntwerden des Unglücks keineswegs passiv, sondern gründeten rasch einen Elternausschuss zur Vertretung ihrer Interessen. Aus diesem Elternausschuss ging später die „Interessengemeinschaft der Calmette-Geschädigten“ hervor, die unter anderem regelmäßige Feste für die „Calmette-Kinder“ veranstaltete – einem der Gesprächspartner waren sie noch in lebhafter Erinnerung. Der Lübecker Staat ergriff 1930 geradezu erstaunlich umfangreiche und kostspielige Maßnahmen, um die betroffenen Familien zu unterstützen. Neben regelmäßigen Durchuntersuchungen der Geimpften reichten sie von Fürsorgeleistungen wie Nahrungsmittelbeigaben über Haushaltshilfen bis hin zu Unterstützungen beim Wohnungswechsel. Die Erinnerungen Betroffener – z. B. an ihre wöchentliche Butterration – vermittelten, wie wichtig diese Unterstützungen in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit waren. Die geimpften Kinder erhielten außerdem einen je nach Schwere ihres Krankheitsbildes gestaffelten Schadensersatz von einem eigens dafür eingerichteten Schiedsgericht. Während die Vergabe dieser Schmerzensgelder anhand von Archivalien rekonstruierbar war, ergaben erst die Gespräche mit den Zeitzeugen, dass die Währungsreform 1948 zum nahezu vollständigen Verlust dieser auf Sparbüchern angelegten Entschädigungssummen führte. Selbst im Erwachsenenalter musste ein Teil der Betroffenen mit chronischen Folgeschäden der Impfung umgehen. So führte z. B. eine Tuberkulose des Mittelohrs bei mehreren Geimpften zu starker Schwerhörigkeit, die chronische Entzündung machte noch spät Operationen erforderlich. Das Interview im hohen Alter bot den Zeitzeugen die Möglichkeit einer umfassenden Rückschau – die Präsenz des Impfunglücks in ihrem Leben reichte dabei vom täglichen Umgang mit Folgeschäden bis zur bloßen Erinnerung, doch ein „Calmette-Kind“ zu sein.

Diese vielschichtigen Nachgeschichten des Impfunglücks zeigen, wie ein einzelnes katastrophales Ereignis die Lebenswelten der Betroffenen, aber auch von Beteiligten wie Verwandten, Verursachern oder Helfenden über Jahrzehnte prägt. Das Impfunglück fordert deshalb auch heute noch zu einem achtsamen Umgang mit dem medizinischen Fortschritt auf – absolute Sicherheit wird es nie geben.

Lebenslauf:
1988 geboren in Oldenburg
2008 Abitur am Alten Gymnasium Oldenburg
2008 bis 2015 Studium der Humanmedizin an der Universität zu Lübeck
08.01.2018 Promotion

Betreuung: Prof. Cornelius Borck

Zur Dissertationsschrift: www.zhb.uni-luebeck.de/epubs/ediss1952.pdf