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Prothesen und Enhancement

Medizinische Ersatzlösungen als technische Selbstentwürfe

Auf den ersten Blick erscheint die Sache einfach und der Unterschied klar: Eine Prothese ersetzt ein verlorenes menschliches Körperteil, während Enhancement auf Steigerung menschlicher Leistungsfähigkeit zielt. Die Prothese ist ein Ersatz, der ganz beim biologischen Vorbild bleibt – sofern denn Technik ausreicht, um hier überhaupt von einer technischen Nachahmung sprechen zu können: Krücken z.B. sind so behelfsmäßig und unvergleichlich mit einem menschlichen Bein, dass sie oft nicht als Prothese angesehen werden.

Aber was passiert, wenn bei der Arbeit am technischen Ersatz eine Lösung naheliegt, die partiell anderes leistet als das biologische Vorbild? Und was ist, wenn der technische Ersatz zum Einsatz kommt, um natürlicherweise vorhandene Grenzen menschlicher Organe zu überwinden? Mit geschliffenen Linsen lassen sich Sehfehler korrigieren oder Mikroskope bauen. Die Welt ist voller technischer Dinge, mit denen menschliches Leben sich heute völlig anders vollzieht, als von der Natur vorgegeben. – Entsprechend hatte Sigmund Freud in seiner Kulturtheorie davon gesprochen, dass der Menschen „sozusagen eine Art Prothesengott“ sei, „recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt“.

Anders als Abhängigkeit von moderner Technik vermuten lässt, reicht die Geschichte der Prothetik bis in sehr frühe Zeiten zurück. Das verweist darauf, dass in der Medizin immer die Praxis zuerst kommt, weil konkretes Leiden dringlich der Abhilfe bedarf und dazu auch technische Lösungen gesucht werden, noch bevor ein Problem wissenschaftlich durchdrungen ist. Besonders die Zeiten einer künstlichen Bedarfssteigerung wie im Krieg, wenn massenhaft versehrte Körper versorgt werden müssen und eine Verstümmelung nicht einfach als Schicksal abgetan werden kann, markieren Innovationsperioden – die bewegliche Hand für Götz von Berlichingen, die Entwicklung von brauchbaren Beinprothesen im amerikanischen Bürgerkrieg, Ferdinand Sauerbruchs Arbeit an einer greifenden Hand im 1. Weltkrieg.

Diese zynische Funktionslogik rief Kritiker auf den Plan, allen voran die Pazifisten unter den Berliner Dadaisten. Sie zeichneten Soldaten als Marionetten und die Befehlshaber als gefühllose Maschinen. Raoul Hausmann lobte am Sauerbruch-Arm, dass sogar Schüsse schmerzlos durch die Prothese durchgingen. Wenig später träumen die Ingenieure des Kommunismus vom Neuen Menschen, der durch Technik und Medien geschaffen werden soll – und an dem schon Raoul Hausmann mit seinem Optophon gearbeitet hatte, das die Sinneswahrnehmung des Menschen revolutionieren sollte. Für den Alltag taugliche Prothesen hingegen scheiterten oft aus vergleichsweise banalen Gründen, weil z.B. ein Blindenverein die Brailleschrift fördern und deshalb keinen Schrift-Ton-Wandler unterstützen wollte.

Cyborgs wurden am Ende des alten Jahrtausends zum Faszinosum, als die Digitalisierung neue Kommunikationsformen möglich machte. Donna Haraway und andere machten auf die Herkunft dieser Figur aus der Weltraumforschung im Kalten Krieg aufmerksam und erkannte gerade darin Chancen kritischer Aneignung. Wissenschaftshistorische und kulturwissenschaftliche Perspektiven können nicht nur noch viel weiter zurückreichende Anknüpfungspunkte aufspüren, sondern sie bieten damit auch Ressourcen an für aktuelle gesellschaftliche Diskussionen um Enhancement und Selbstoptimierung.

 

Publikationen

Schües, C. (2014). Improving deficiencies? Historical, anthropological, and ethical aspects of the human condition. In: M. Eilers, K. Grüber, C. Rehmann-Sutter (eds.): The human enhancement debate and disability. New Bodies for a Better Life. London: Palgrave Macmillan, S. 38-63.

Borck, C. (2012). Granatenschock, Gesichtsverlust und die Geburt des Roboters im Ersten Weltkrieg, in Hans-Arthur Marsiske (Hg.): Kriegsmaschinen. Roboter im Militäreinsatz, Hannover: Heise Zeitschriften Verlag, S. 81-94.

Borck, C. (2012). The Human Body Re-Built: Körpermontagen im 20. und 21. Jahrhundert/The Human Body Re-Built: Body Montages in the Twentieth and Twenty-First Centuries, in Christiane zu Salm (Hg.): Manifesto Collage. Über den Begriff der Collage 21. Jahrhundert/Defining Collage in the Twenty-First Century, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst Nürnberg, S. 187-197.

Schües, C. (2012). Menschliche Natur, glückliche Leben und zukünftige Ethik. Anthropologische und ethische Hinterfragungen. In: M. Eilers, K. Grüber, C. Rehmann-Sutter (Hg.): Verbesserte Körper und gutes Leben? Bioethik, Enhancement und die Disability Studies, Reihe: Praktische Philosophie Kontrovers. Frankfurt u.a.: Lang Verlag, S. 41-62.

Borck, C. (2010). Sinnesmontagen: Die Sehprothese zwischen Ersatz-Apparat und Technovision. In: Sabine Flach und Margarete Vöhringer (Hg.): Ultravision. Zum Wissenschaftsverständnis der Avantgarde, München: Fink, S. 149-164.

Borck, C. (2008). Blindness, Seeing, and Envisioning Prosthesis: The Optophone between Science, Technology, and Art. In: Dieter Daniels uund Barbara Ulrike Schmidt (Hg.): Artists as Inventors – Inventors as Artists, Ostfildern: Hatje Cantz, S. 108-129.

Borck, C. (2004). Das künstliche Auge. Zur Geburt des Cyborg in der Sinnesprothesenforschung. In: Barbara Orland (Hg.): Artifizielle Körper - lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive, Zürich: Chronos, S. 159-176.