Non-binary sex and gender
Von Lübeck aus entwickeln wir gegenwärtig ein interdisziplinäres Forschungsnetzwerk zur Geschlechterdifferenzierung mit einem explizit nicht-binären Ansatz. Es bezieht Forschungsgruppen aus den Naturwissenschaften (Entwicklungsbiologie, Genetik), der Medizin (Endokrinologie, DSD-care), den Sozial- und Kulturwissenschaften (Soziologie, Psychologie, Geschichte) Recht und Ethik ein. Die Ebenen sex und gender werden untersucht, jeweils auch in ihren Interdependenzen.
In herrschenden wissenschaftlichen, medizinischen und kulturellen Vorstellungen gilt die Entstehung von zwei Geschlechtern – Frau und Mann – vor allem für die Fortpflanzung als notwendig. Männlichkeit und Weiblichkeit sind jedoch eher als facettenreicher Ausdruck vielfältiger Bedingungen zu verstehen, zu denen die Körperlichkeit, die physische und psychische Entwicklung, die Verhaltensweisen und die sozialen Identitäten gehören. Konzepte und Stereotypen der geschlechtlichen Entwicklung haben mannigfaltige und offenkundige Verknüpfungen zu Gesellschaft und Kultur. Umgekehrt ist das Verständnis der geschlechtsabhängigen Verschiedenartigkeit und der Entstehung von Krankheiten des Menschen in der Biomedizin auch von Sprache und kulturellen Mustern geprägt. In aktuellen soziokulturellen Kontexten wird das traditionelle binäre Denken in einem Zweigeschlechter-Modell zunehmend in Frage gestellt, da es als diskriminierend und einengend erkannt wird. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein von der Diversität von Geschlecht. Im Einklang mit internationalen Entwicklungen hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem bahnbrechenden Urteil vom 10. Oktober 2017 das binäre Geschlechtermodell mit der Annahme von nur zwei biologisch festgelegten Geschlechtern als Verletzung von Grundrechten von Menschen erachtet, die mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (differences of sex development, DSD) leben – und damit als verfassungswidrig eingestuft. Die Einführung einer dritten Geschlechtskategorie in Gesetze, in Verwaltungsdokumente und in die soziale Organisation wird auf mehreren Ebenen zu einer Transformation der Gesellschaft führen. Die Implikationen dieser Veränderungen sind bisher nur teilweise verstanden worden und haben einen deutlichen Einfluss auf Familien und Kultur.
Es gibt einen Bedarf nach inter- und transdisziplinärer Forschung. Dieser Bedarf umfasst, wie Olaf Hiort, Martina Jürgensen und Christoph Rehmann-Sutter 2022 in einer Publikation in der Zeitschrift Hormone Research in Pediatrics dargelegt haben, (1) Forschung ohne die Voraussetzung der Geschlechterbinarität, (2) eine Zusammenarbeit zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, (3) die Erforschung der Geschichte und der Kontexte von klinischen Entscheidungen, (4) eine Beobachtung der öffentlichen Wahrnehmung, (5) eine vergleichende Untersuchung zwischen kongenitalen und erworbenen Nonbinaritäten, (6) einen aktiven Einbezug von Betroffenen und Selbstorganisationen, sowie (7) die Untersuchung von Stigma und Diskriminierung in gesellschaftlichen Wirklichkeiten.
Queer Art: Filme prägen die öffentliche Wahrnehmung von sex, gender und Binarität in besonderer Weise. Birgit Stammberger und Christoph Rehmann-Sutter nutzen die Formate des Filmseminars und von Wahlpflichtseminaren, um ausgewählte filmische Beiträge zu diskutieren und mit theoretischen Diskussionen in Verbindung zu bringen.
- Programm Filmseminar WiSe 22/23
- Programm Filmseminar SoSe 22
Aspekte von Gender und Diversity sind Teil der Lehre. Perspektiven der Genderforschung in den Natur- und Biowissenschaften werden im Sinne der geforderten Genderkompetenz (Nationaler Kompetenzbasierter Lernzielkatalog Medizin) umgesetzt.
- Seminar Geschlechterwissen in der Medizin
- Vorlesung zur Gendermedizin bzw. Gender in Medizingeschichte: "Körper haben (k)ein Geschlecht"