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Retterbeziehungen und Kindeswohl

Sarah Rieken:

Ansichten und Erfahrungen von Eltern nach einer hämatopoietischen Stammzellspende ihres Kindes an ein Geschwister - eine qualitativ-empirische Pilotstudie.

Zusammenfassung
Die allogene Stammzellspende (alloHSCT) durch minderjährige Geschwisterkinder (MSD) ist eine seit Jahrzehnten etablierte Praxis. Sie hat das große Potenzial, andernfalls tödlich verlaufende Erkrankungen zu heilen und stand lange Zeit, mangels äquivalenter alternativer Therapien, scheinbar unumgänglich da.

Wegen der besonderen Güte des MSD Transplantats, seiner geringeren Toxizität und der guten Verfügbarkeit der Spender, stand sie lange weit über den alloHSCTs mit Stammzellen anderer Quelle. Der medizinische Fortschritt mit dem Ergebnis der immer besseren Vergleichbarkeit der Ergebnisse für die verschiedenen alloHSCT-Formen auf der einen Seite und das Wissen um die möglichen lebensverändernden psychosozialen Spätfolgen für die Spender andererseits, stellen die stete Präferenz der MSD alloHSCT zunehmend infrage. Bei diesem Dissertationsprojekt handelt es sich um eine qualitativ-empirische Pilotstudie, für die 5 Elternpaare jeweils separat interviewt wurden. Die verbatim transkribierten Interviews wurden nach der Methode der Interpretativen Phänomenologischen Analyse ausgewertet. Die Ergebnisse (emergent themes), die hier vorgestellt wurden, sind zum einen die elterliche Wahrnehmung der eigenen Entscheidungsräume im Setting der MSD alloHSCT, sowie die Rolle der Gewebetypisierung (HLA-Typisierung) und des ärztlichen Narrativs hierbei. Zum anderen interessierte der elterliche Blick auf die Emotionen ihrer Spenderkinder. Der Fokus lag hierbei auf der perzipierten Angst, dem Stolz und dem Pflichtgefühl der Kinder.

Die interviewten Eltern sahen kaum Spielräume für ihre eigenen Entscheidungen und nahmen sich vielmals als Ermöglicher der nächsten Therapieschritte für ihre erkrankten Kinder wahr. Sie ließen sich und ihre gesunden Kinder HLA-typisieren und freuten sich über ein HLA-Match ihrer Kinder gemeinsam mit dem medizinischen Team. Alle HLA-gematchten und aus ärztlicher Sicht am besten geeigneten Kinder spendeten ihrem erkrankten Geschwister Knochenmark. Dies hätte dann außer Frage gestanden, berichteten die Eltern. Somit hatten sie durch ihre Einwilligung in die HLA-Typisierung indirekt auch in die Stammzellspende der Kinder eingewilligt, also zu einem Zeitpunkt, zu dem sie nicht die genauen Abläufe und möglichen v.a. psychologischen Risiken der Knochenmarkspende kannten. Die Eltern und Ärzte versuchten den Kindern ihre Ängste und den eventuellen Widerstand durch aufklärende Gespräche und in Aussicht gestellte Belohnungen zu nehmen. Alle spendenden Kinder, bis auf eines, gaben ihr Ok zur Spende. Mehrere Kinder waren jedoch im Nachhinein überrascht, da sie sich im Vorhinein nicht alle Implikationen einer Knochenmarkspende hatten vorstellen können. Zwei jüngere Spenderkinder wollten die Vor- und Nachuntersuchungen, inklusive der dazugehörigen Blutentnahmen, nicht über sich ergehen lassen.

Die Eltern berichteten von unterschiedlichen Ängsten ihrer Kinder. Hier stand die Angst vor den erwarteten Schmerzen und der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit im Vordergrund. Zwei jüngere Spender schienen durch die Spende und die Umstände der Erkrankungen ihrer Geschwister traumatisiert worden zu sein und zeigten dies später in regressivem und vermeidendem Verhalten. Die Kinder seien jedoch auch stolz auf ihren Anteil an der Genesung der Geschwister gewesen zu sein und genossen es teilweise durch die mit der Knochenmarkspende verbundene Hospitalisierung einmal ein Teil der Krankenhauswelt ihrer Geschwister sein zu können. Die Eltern der beiden älteren spendenden Geschwister beobachteten ein Pflichtgefühl bei ihren Kindern, das diesen dabei geholfen zu haben schien, ihre Ängste vor dem Eingriff zu überwinden und selbstbestimmt ihre Zustimmung zur Knochenmarkspende zu geben.

Die Eltern einer Familie berichteten von einem Aufklärungsgespräch mit einem donor advocate. Den Vater habe dies zunächst verwirrt. Erst im Nachhinein habe er erkennen können, welchen Wert das Gespräch für ihn und seine Familie gehabt hatte.

Alle interviewten Eltern betrachteten die MSD alloHSCT positiv, da die Empfängerkinder zum Zeitpunkt der Interviews lebten und es ihnen gut ging. Sie bewerteten den Eingriff als eher unproblematisch für ihre spendenden Kinder und waren zum größten Teil zufrieden mit der Betreuung an den behandelnden Kliniken.

Dennoch zeichneten sich in den Erzählungen der Interviewpartner innerfamiliäre Konflikte und Stresssituationen ab, die sich unter anderem in Ängsten der Eltern und ihrer Kinder zeigten. Die Beobachtungen dieser Pilotstudie luden zur genaueren Untersuchung der Situation für die betroffenen Familien in einem größeren zeitlichen Abstand zur Stammzellspende ein.

Die MSD alloHSCT durch minderjährige Spender bleibt eine sehr gute Therapieoption für verschiedene Erkrankungen. Das Bewusstsein für die möglichen Kehrseiten der Therapie für die spendenden Kinder muss jedoch geschärft sein und erfordert eine gute strukturierte Begleitung und Nachsorge der Spender. Eine unterstützende Beratung durch einen donor advocate sollte ebenso Standard sein, wie ein shared decision-making Ansatz während der Aufklärung. Mittelfristig könnte eine Umkehr der Spendersuchehierarchie hin zu einer primären Suche in einem Spenderregister und erst im zweiten Schritt einer innerfamiliären Suche mit einer Typisierung der minderjährigen Geschwister vorgesehen werden. Langfristig, wenn der medizinische Fortschritt die letzten Vorteile der MSD alloHSCT dahinschmelzen lässt, sollte das Ziel sein, die MSD alloHSCT mit minderjährigen Spendern durch alternative Therapieformen zu ersetzen.

Projektverantwortliche:
Prof. Christoph Rehmann-Sutter
Prof. Christina Schües