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Ethik und Epistemologie der Präzisionsmedizin

Präzisionsmedizin lautet das aktuelle Zukunftsversprechen der biomedizinischen Forschung: Das gesamte verfügbare medizinische Wissen soll mobilisiert und mit den immer feiner werdenden diagnostischen Möglichkeiten so zusammengefügt werden, dass in Zukunft Medizin nicht mehr Krankheiten behandelt, sondern für individuelle PatientInnengruppen auf ihre Körper maßgeschneiderte – auf einzigartige Formen von Kranksein genau abgestimmte – Therapien entwickelt.

Mit dieser Zielsetzung werden im Exzellenzcluster Precision Medicine in Chronic Inflammation (PMI) Verfahren zur Prävention, Diagnose und Therapie chronischer Entzündungskrankheiten erforscht und entwickelt. Erkrankungen der Barriereorgane stehen dabei im Fokus. Damit sind unter anderem chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Colitis Ulcerosa, Lungenerkrankungen wie Asthma und Hauterkrankungen wie die Schuppenflechte angesprochen.

Die Forschungen und translationalen Bestrebungen („From Bench to Bedside“) des Exzellenzclusters sind nicht nur biowissenschaftlich innovativ und medizinisch herausfordernd, sie werfen auch eine Reihe von philosophischen Fragen auf, die im Rahmen des Exzellenzclusters erforscht werden. Entsprechend widmen sich zwei Teams ethischen und epistemologischen Aspekten der Präzisionsmedizin chronischer Entzündungskrankheiten sowie deren Zusammenspiel. Beide Arbeitsbereiche sind dem Research- and Technology Field IX (Ethik, Kommunikation und Ökonomie) des Exzellenzclusters zugeordnet.
 

Ethische Aspekte
(Bozzaro/Erdmann/Rehmann-Sutter)

Die präzisionsmedizinische Forschung und deren klinische Anwendung stellt für PatientInnen mit chronisch entzündlichen Erkrankungen eine optimierte Therapie und damit eine verbesserte Lebensqualität in Aussicht. Die dabei erforderliche ausgiebige Sammlung und massive Verwendung von Genomdaten und medizinischen Daten der PatientInnen sowie Informationen zu deren Lebensstil und möglichen Umweltfaktoren wirft aber auch Fragen nach der Verhältnismäßigkeit der Datenerfassung sowie von Chancen und Risiken auf. Das Forschungsprojekt untersucht daher, inwieweit die Möglichkeiten und Grenzen der Präzisionsmedizin von ExpertInnen und PatientInnen wahrgenommen werden und welche Bedeutung die Präzisionsmedizin für die Erfahrung und die Konzeption eines „guten Lebens“ aus Sicht der Betroffenen hat.

Ein wichtiges Ziel dieser Untersuchung ist die Entwicklung patientInnenenorientierter Bewertungskriterien für die Präzisionsmedizin – speziell im Hinblick darauf, was das Leben mit der Krankheit aus der Sicht von Erkrankten besser macht. Das Teilprojekt soll mit einer qualitativen Studie und einer philosophischen Analyse einen Beitrag zur Ethik der präzisionsmedizinischen Praxis leisten, in der insbesondere Fragen der Kommunikation und klinischen Entscheidungsfindung analysiert werden.
 

Epistemologische Aspekte
(Borck/Meunier/Schües)

In der Präzisionsmedizin müssen nicht nur sehr viele verschiedenartige Daten gesammelt und integriert werden, es müssen auch heterogene Forschungskulturen, Klassifikationssysteme und Semantiken ineinander übersetzt werden. In diesem Teilprojekt wird dieses Anforderungsgemenge aus erkenntnistheoretischer Perspektive in den Blick genommen. Im Fokus stehen dabei unter anderem diese Fragen: Wie wird mit der unübersichtlichen Komplexität und der Kontextualität von biomedizinischen Daten in der präzisionsmedizinischen Erforschung chronischer Entzündungskrankheiten praktisch umgegangen? Inwiefern bestehen epistemologische und methodologische Herausforderungen bei der Integration von Wissen aus unterschiedlichen Forschungskulturen? Welche kommunikativen und normativen Probleme stellen sich bei der Translation in die Klinik an verschiedenen Schnittstellen, insbesondere mit Blick auf wissenschaftliche Unsicherheit und divergierende Zielvorstellungen in Forschung und klinischer Anwendung?

Wichtige Ziele dieses Teilprojektes sind die Erkundung resilienter Übersetzungsverfahren zwischen verschiedenen Bereichen und Kulturen der Präzisionsmedizin und eines klugen Umgangs mit kommunikativen Herausforderungen bei der Translation in die klinische Praxis, auch mit Blick auf die medizinethische Dimension dieser Herausforderungen. Im Sinne einer Philosophie der wissenschaftlichen Praxis werden dazu empirische Beobachtungen mit wissenschaftsphilosophischen Analysen kombiniert und reflexive Interventionen in die laufenden Übersetzungsschritte in und zwischen den verschiedenen Arbeitsgruppen des Exzellenzclusters erprobt.


Förderung

Deutsche Forschungsgemeinschaft, im Rahmen des Cluster of Excellence „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ 2020-2025.


Team

Prof. Dr. Cornelius Borck, Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Universität zu Lübeck

Prof. Dr. Claudia Bozzaro, Institut für Experimentelle Medizin, Arbeitsgruppe Medizinethik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Dr. Anke Erdmann, Institut für Experimentelle Medizin, Arbeitsgruppe Medizinethik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Dr. Simon Lohse, Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Universität zu Lübeck (2021-2022)

Dr. Robert Meunier, Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Universität zu Lübeck (2022-2023)

Prof. Dr. Christoph Rehmann-Sutter, Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Universität zu Lübeck

Prof. Dr. Christina Schües, Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Universität zu Lübeck


Weitere Informationen

Link zum Vorgängerprojekt Das gelebte Genom und chronische Entzündungskrankheiten