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Anatomien medizinischen Wissens

Eine Bestandsaufnahme für "Philosophie der Gegenwart"

Cornelius Borck

Medizinphilosophie war für mich zuerst mehr so etwas wie ein Versprechen, verschiedene Interessen auf einen Nenner zu bringen, als ich parallel zur Medizin angefangen hatte Philosophie zu studieren (was damals noch möglich war). Karl Rothschuhs Konzepte der Medizin vermittelten damals wichtige erste Impulse, wie sich die empirische Heterogenität der Medizin systematisch ordnen lasse. Bei einem Besuch in Münster traf ich stattdessen allerdings auf einen radikalen (und esoterisch anmutenden) Versuch, Medizin am strengen Maßstab der Wissenschaftsphilosophie zu vermessen, wie es damals charakteristisch für das kleine Spezialgebiet einer Philosophie der Medizin war. Heute erscheint mir auch Rothschuhs Ordnungsbemühungen eher schematisch und verleiten mich zur noch nicht näher untersuchten Frage, warum er sich nicht intensiver mit den damals neuen Strömungen der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie in Frankreich, England und Amerika beschäftigt hat, obwohl er alle Kontakte dazu hatte. Gleichwohl blieb für mich sein historischer Zugang zu medizinphilosophischen Fragen prägend. Bereits aus dem Studium heraus hatte sich für mich die Gelegenheit ergeben, für die Reihe „Philosophie der Gegenwart“ einen Band zur Medizin  zu konzipieren. In London, wo ich damals promovierte, war das Wellcome Institute zwar das Mekka der Medizingeschichte, aber ein bisschen zu exklusiv für die alltägliche Arbeit, weshalb ich ans Imperial College auswich, wo ich bei meinen Vorbereitungen für den Band dafür auf die neuere Wissenschaftsforschung und die Science and Technology Studies stieß. Sie schien mir mit ganz aktuellen Fragen bei dem anzuknüpfen, was ich zuvor im Studium in Hamburg bei Lothar Schäfer zu Ludwik Fleck gehört hatte. Die Anatomien medizinischen Wissens wurden zur Probe aufs Exempel, noch bevor es beruflich richtig losging. Sie galten mir als Nachweis, dass vorerst der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung der Primat gehören sollte – bis ich zwanzig Jahre später dann doch eine Medizinphilosophie geschrieben habe.

Solche Themen und Fragen haben mich seither nicht losgelassen, bei einigen sind daraus mehr Beiträge zur Zeitgeschichte der Medizin geworden, bei anderen mehr historiographische Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte oder gegenwartsdiagnostische Aufsätze zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit.

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