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Wissenschaftsgeschichte und Historische Epistemologie

Wer nach der Historizität von Wissen fragt, rechnet damit, dass es anders sein könnte. Das impliziert einen Möglichkeitssinn, der historische Bedingungen immer schon im Hinblick auf Alternativen, auf Abzweigungen und andere Zukünfte befragt. Nur auf den ersten Blick widmet sich Wissenschaftsgeschichte allein der Vergangenheit.

Offenbar gilt für Wissenschaftsgeschichte wie für andere Disziplinen, dass ihre Programme und Projekte Trends und Tendenzen durchlaufen. Insofern Wissenschaftsgeschichte mehr sein soll als eine Normalwissenschaft, muss sie solche Konjunkturen als konstitutiv für ihren epistemologischen Anspruch begreifen und zusammen mit der Genese fachlichen Wissens auch noch die Regeln für dessen Anerkennung aus den historischen Bedingungen freilegen - hierin liegt die epistemische wie politische Sprengkraft einer radikalen Historisierung wissenschaftlicher Praktiken und wissenschaftlichen Wissens.

In Zeiten einer umfassenden Evaluation von Forschung nach Impactfaktoren und einer Finalisierung von Wissenschaft im Hinblick auf ihre Vermarktungsfähigkeit muss ihre historisch-kritische Rekonstruktion auf andere Modelle von Nutzen setzen, will sie nicht der Verwechslung von Wissen mit Verwertbarkeit anheimfallen. Der Nutzen wissenschaftshistorischer Forschungsergebnisse bemisst sich vielmehr im Freilegen der Bedingungsgefüge gegenwärtiger Handlungsfelder und im Nachvollziehen konkreter Problemzusammenhänge. Auf die immer raschere Abfolge neuer sogenannter, Turns’ der Wissenschaftsforschung folgte am Ende des 20. Jahrhunderts eine radikale Historisierung so zentraler Konzepte wie Experiment oder Objektivität und eine Erweiterung der Wissenschaftsgeschichte um neue Akteursgruppen. Wissenschaft selbst geriet in Kritik, neben die Wissenschaftsgeschichte trat die Geschichte des Wissens und westliche Wissensordnungen müssen sich heute postkolonialer Kritik stellen.

Ein wesentliches Merkmal dieser dynamischen Entwicklung ist, dass Wissenschaftsgeschichte in immer wieder neuer Weise die Position des Beobachters im Feld selbst reflektiert. Ein solches Unterfangen ist nicht ohne historisches Vorbild. Wissenschaftsgeschichte kann sich dabei auf Ludwik Fleck berufen, der im multilingualen Lemberg der Zwischenkriegszeit die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache zum Gegenstand der Wissenschaftsreflektion machte, was auf dem Umweg über die USA zu Thomas Kuhns Paradigmenwechsel und von dort nach Europa zurückführte.

Wissenschaftsgeschichte scheint als akademisches, Nach-Denken‘ purer Luxus in der Ökonomie von Gesellschaft und Universität. Sie historisiert und relationiert die Wahrheiten der verschiedensten Fachwissenschaften und konkurriert allein mit der Wissenschaftsphiliosophie um die Strenge der Kritik. Aber allein philosophische Kritik und historische Kontextualisierungen versprechen davor zu schützen, von den nächsten wissenschaftlichen, technischen oder sozialen Innovationen überwältigt.

Außerdem ist nicht erst Wissenschaftsgeschichte ein nachträgliches Projekt, sondern schon Wissenschaft selbst als Ausdruck des Hinterfragens der vorbildlichen Wirklichkeit nichts Ursprüngliches. Schon deshalb darf Wissenschaftsgeschichte sich ihrer Sache nicht zu sicher sein, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Im besten Fall eignet ihr eine Kreativität aus profundem Misstrauen gegenüber allem Selbstverständlichen, wie dies schon Hans Blumenberg formuliert hatte: „Nachdenklichkeit heißt: Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.“

Cornelius Borck

 

Publikationen

Borck, C. (2020) Hans Blumenberg: The Transformation of Uexküll’s Bioepistemology into Phenomenology. In. Francesca Michelini, Kristian Köchy (Hg.): Jakob von Uexküll and Philosophy: Life, Environments, Anthropology, Milton: Routledge, S.188-204.

Borck C, Lipphardt V, Maasen S, Müller R (Hg.) (2018) Responsible Research? Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 41(3): 209-316 [Special Issue].

Borck (Hg.) (2018) Zur Zukunft der Wissenschaftsgeschichte, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte

Borck C (2018) Wahrheit, Wirklichkeit und die Medien der Aufklärung. Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 9(2): 161-183.

Borck C (2018) Konkretes Erkennen. Plädoyer aus der Wissenschaftsgeschichte für ein Denken mit den Händen. In: Christian Bachhiesl, Sophia Maria Bachhiesl, Stefan Köechel (Hg.): Intuition und Wissenschaft: Interdisziplinäre Perspektiven, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 147-168.

Borck C (2018) Wissenschaftsphilosophie im Windschatten der Weltpolitik: Wie Karl Poppers Idee der Falsifikation im Exil zum Erfolgsmodell wurde. In: Johannes Feichtinger, Marianne Klemun, Jan Surman und Petra Svatek (Hg.): Wandlungen und Brüche : Wissenschaftsgeschichte als politische Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 37-42.

Borck C (2017) Wissenschaftsphilosophie als Schreibszene und Geistbeschwörung. In: Ute Holl, Claus Pias und Burkhardt Wolf (Hg.): Gespenster des Wissens. Für Joseph Vogl, Zürich: diaphanes, S. 49-53.

Borck C (2017) Pensar y escribir en el grupo de trabajo. La forma de trabajo de Poética y hermenéutica como constellatión (Denken und Schreiben in der Forschungsgruppe: Der Arbeitsmodus von Poetik & Hermeneutik als Konstellation). In: Faustino Oncina Coves (ed.) Constelaciones, Valencia: Pre-Textos, S. 225-250.

Borck C (2017) Wortverflüchtigung: Ganzheitsbezogenheit. In: Falko Schmieder, Georg Toepfer (Hg.): Wörter aus der Fremde: Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte, Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 106-111.

Borck C (2016), Animismus in den Wissenschaften. Zur Renaissance eines für überwunden geglaubten Konzepts, in: Irene Albers, Anselm Franke (Hg.) Nach dem Animismus, Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 19-28.

Borck C (2014) Dem Leben nachdenken [Einleitung zu einem Interview mit Georges Canguilhem], Zeitschrift für Kulturphilosophie 2014/1: 179-186.

Borck C (2013) Begriffene Geschichte: Canguilhem, Blumenberg und die Wissenschaften. In: Borck C (Hg.) Hans Blumenberg beobachtet. Philosophie, Wissenschaft und Technik. Freiburg: Verlag Karl Alber, S. 168-195.

Borck C (2013) Philosophie als „Transzendenz nach innen“: Einleitende Bemerkungen zu Hans Blumenbergs Ortsbestimmung der Philosophie zwischen Wissenschaft und Technik. In: Borck C (Hg.) (2013) Hans Blumenberg beobachtet. Philosophie, Wissenschaft und Technik. Freiburg: Verlag Karl Alber, S. 9-22.

Borck C (2010) Weltmilieu. Die Expo ’67 als Vision globaler Steuerung. In: Thomas Brandstetter, Karin Harrasser, Günther Friesinger (Hg.): Ambiente. Das Leben und seine Räume, Wien: Turia + Kant, S. 177-192.

Borck C (2007) Vom Spurenlesen und Fintenlegen. Canguilhems Votum für eine Empirie organischer Rationalität. Nach Feierabend: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 3: 213-225.

Borck, C (2007) Scheiternde Versuche. Focus MUL 24 (4): 206-212.

Borck C (2006) Between local cultures and national styles: Units of analysis in the history of electroencephalography. Comptes Rendus de l’Académie des Sciences, série Biologies 329: 450-459.

Borck C, Hess V, Schmidgen H (Hg.) (2005) Maß und Eigensinn. Studien im Anschluß an Georges Canguilhem, München: Fink Verlag.

Borck C (2004) Message in a bottle from ‘the crisis of reality:’ On Ludwik Fleck’s interventions for an open epistemology. Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 35: 447-464.

Borck C (2004) Vivarium des Wissens. Kleine Ontologie des Schnupfens. In: Ruth Mayer und Brigitte Weingart (Hg.): Virus! Mutationen einer Metapher, Bielefeld: transcript, S. 43-60.