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Visualisierungswissen

Strategien der Sichtbarmachung und ihre epistemische Dynamik

Cornelius Borck

Große Bereiche der biowissenschaftlichen Forschung und der medizinischen Praxis basieren heute auf Verfahren der Sichtbarmachung. Visualisierungen können z.B. die Körperoberfläche durchdringen und im Inneren Verborgenes sichtbar machen (das Ultraschallbild eines Ungeborenen oder die Röntgenaufnahme einer Lungenentzündung) oder unvorstellbar Kleines bzw. Großes auf Maße der Anschaulichkeit bringen (Mikroskop und Teleskop). Schließlich können Visualisierungsverfahren auch Phänomene jenseits der menschlichen Sinne (z.B. die Stromimpulse des menschlichen Herzens im EKG) oder wissenschaftliche Konstrukte (z.B. Aktivierungsmuster im Gehirn bei psychischen Prozessen) sichtbar machen.

Visualisierungen werden dabei nicht nur durch das bestimmt, was sich auf ihnen zeigt und so nachgewiesen werden soll, sondern ebenso durch die technischen Voraussetzungen der eingesetzten Verfahren. Bestimmte technischen Methoden müssen zur Verfügung stehen und die eingesetzten technischen Medien formatieren die Ergebnisse gemäß ihren Funktionsprinzipien. Oft ist eine lange Geschichte der Entwicklung und Etablierung bestimmter Verfahren in die Bilder eingegangen und hat spezifische Darstellungsweisen und Sehgewohnheiten geformt. Das verweist einerseits auf Technikgeschichte, andererseits auf komplexe kulturelle Zusammenhänge, die maßgeblichen Einfluss auf Art und Einsatz von Visualisierungsverfahren haben – wie umgekehrt neue Visualisierungsverfahren Kultur und Gesellschaft prägen können, man denke etwa an die Zirkulation fotografischer Bilder in der Gegenwart.

Das macht Visualisierungsverfahren zu einem wichtigen Gegenstand an der Schnittstelle von Wissenschaftsgeschichte, historischer Epistemologie und Kulturwissenschaften. Das Buch Hirnströme: Zur Kulturschichte der Elektroenzephalographie untersucht folgende Fragen anhand der Entwicklung des EEGs: Welche methodischen, technischen, epistemischen Voraussetzungen gehen jeweils in bestimmte Visualisierungsformen ein und welche Effekte haben spezifische Visualisierungsverfahren auf das damit gewonnene Wissen und dessen Verbreitung?

Visualisierungen dienen nicht nur der Forschung, sondern auch der Vermittlung und Verbreitung wissenschaftlichen Wissens. Ein spektakuläres Beispiel liefern die innovativen Veranschaulichungen zu Bau und Funktion des menschlichen Körpers, die der Arzt, Aufklärer und Medizinjournalist Fritz Kahn in den 1920er Jahren für das Massenpublikum der Weimarer Republik entwickelte und die in jüngster Zeit wiederentdeckt wurden. Sie zeigen anatomisch-physiologisches Basiswissen in Form raffinierter Bild-Montagen, die den menschlichen Körper mit Maschinen und technischen Strukturen verblenden. Auf den ersten Blick scheinen sie Physiologie als anonyme Maschinenmedizin zu visualisieren, aber das passt nicht zu den humanistischen Einstellungen ihres Schöpfers, der als Mediziner auch offene Sexualberatung anbot und aufgrund seiner jüdischen Abstammung in die USA emigrieren musste: Hier lohnt die genauere Analyse der Bildprogramme und ihrer philosophisch-anthropologischen Voraussetzungen. Kahn visualisierte vielmehr die aufklärerische Utopie einer technischen Erschließung der menschlichen Natur.

Als ähnlich raffiniert erweisen sich die Montage-Bilder, die zur selben Zeit der Weimarer Republik die Berliner Dadaisten gezielt zur politischen Agitation einsetzten. Auch hier trügt der erste Eindruck leicht. Denn diese Bilder erschöpfen sich nicht in der scheinbar eindeutig dargestellten Technikkritik, vielmehr hat z.B. Raoul Hausmann an Projekten einer medientechnischen Überwindung der Grenzen der menschlichen Sinne gearbeitet, die ihn zu einem Vordenker des Enhancements machen. Hannah Höch hingegen, seine kurzzeitige Partnerin in jenen turbulenten Berliner Jahren, stellte mit ihren Fotomontagen die gängigen Stereotype sexueller und ethnischer Identität in Frage.

 

Publikationen

Borck, C. (2020) Mensch als Industriepalast. In: Martina Heßler und Kevin Liggieri (Hg.): Technikanthropologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium, Stuttgart: Metzler, S. 285-288.

Borck C (2019). Anthropologie im Medium der Technik. Zu Fritz Kahns Visualisierungen des menschlichen Körpers. In: Philipp Stoellger (Hg.): Figurationen des Menschen: Studien zur Medienanthropologie. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 419-439.

Borck C (2018) Brainwaves: A Cultural History of Electroencephalography; transl. by Ann M. Hentschel, London: Routledge, 333 Seiten.

Borck C (2018) Visualisierung ohne Widerstandsaviso. Zur Deutungsmacht selektiver Darstellungsverfahren in den Biowissenschaften. In: Philipp Stoellger, Martina Krumlehn (Hg.): Bildmacht / Machtbild. Deutungsmacht des Bildes: Wie Bilder glauben machen, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 323-342.

Borck C (2018) Review of Michael Sappol. Body Modern: Fritz Kahn, Scientific Illustration, and the Homuncular Subject. Isis 109(2): 428-429.

Borck C (2012) The Human Body Re-Built: Körpermontagen im 20. und 21. Jahrhundert/The Human Body Re-Built: Body Montages in the Twentieth and Twenty-First Centuries, in Christiane zu Salm (Hg.): Manifesto Collage. Über den Begriff der Collage 21. Jahrhundert/Defining Collage in the Twenty-First Century, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst Nürnberg, S. 187-197

Borck C (2011) Ikonen des Geistes und Voodoo mit Wissenschaft. In: Philipp Stoellger, Thomas Klie (Hgg.): Präsenz im Entzug: Ambivalenzen des Bildes, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 447-474.

Borck C (2009) Humanist und technischer Aufklärer. In: Uta von Debschitz und Thilo von Debschitz (Hg.): Fritz Kahn – Man Machine / Maschine Mensch, Wien: Springer 2009, S. 10-21.

Borck C (2009) Bild der Wissenschaft: Neuere Sammelbände zum Thema Visualisierung und Öffentlichkeit (Essayreview). NTM 17: 317-327.

Borck C (2008) Recording the Brain at Work: The Visible, the Readable, and the Invisible in Electroencephalography. Journal of the History of the Neurosciences 17: 367-379.

Borck C (2008) Der industrialisierte Mensch. Fritz Kahns Visualisierungen des Körpers als Interferenzzonen von Medizin, Technik und Kultur. WerkstattGeschichte 47: 7-22.

Borck C (2008) Rezension von Luc Pauwels (Ed.): Visual Cultures of Science: Rethinking Representational Practices in Knowledge Building and Science Communication. Isis 99(2): 383-384.

Borck C (2007) Communicating the Modern Body: Fritz Kahn’s Popular Images of Human Physiology as an Industrialized World. Canadian Journal of Communication 32(4): 495-520.

Borck C (2005) Writing brains: tracing the psyche with the graphical method. History of Psychology 8: 79-94.

Borck C (2005) Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie. Göttingen: Wallstein Verlag.

Borck C (2005) Sound Work and Visionary Prosthetics: Artistic Experiments in Raoul Hausmann. Papers of Surrealism 4. www.surrealismcentre.ac.uk publications/papers/journal4/index.htm.

Borck C (2003) Vermessene Ströme. Zur Geschichte elektrophysiologischer Aufschreibesysteme am Beispiel von Elektrokardiographie und Elektroenzephalographie. In: Ewald Konecny, Volker Roelcke und Burkhard Weiss (Hg.): Medizintechnik im 20. Jahrhundert: Historische Entwicklungen und Perspektiven. Berlin: VDE-Verlag, S. 29-58.

Borck C (2002) Urbane Gehirne. Zum Bildüberschuß medientechnischer Hirnwelten der 1920er Jahre. Archiv für Mediengeschichte 2: 261-272.

Borck C (2002) Das Gehirn im Zeitbild. Populäre Neurophysiologie in der Weimarer Republik. In: David Gugerli und Barbara Orland (Hg.): Ganz normale Bilder: Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Zürich: Chronos, S. 195-225.

Borck C (2001) Die Unhintergehbarkeit des Bildschirms. Beobachtungen zur Rolle von Bildtechniken in den präsentierten Wissenschaften. In: Bettina Heintz und Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge Denken. Repräsentationsformen in Wissenschaft und Kunst, Zürich: Edition Voldemeer, S. 383-394.

Borck C (1998) Visualizing nerve cells and psychic mechanisms: the rhetoric of Freud’s illustrations. In: Giselher Guttmann und Inge Scholz-Strasser (Hg.): Freud and the Neurosciences. From Brain Research to the Unconscious. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, S. 75-86.

Borck C (1997) Herzstrom. Zur Dechriffrierung der elektrischen Sprache des menschlichen Herzens und ihrer Übersetzung in klinischer Praxis. In: Volker Hess (Hg.): Die Normierung von Gesundheit. Messende Verfahren in der Medizin als kulturelle Praktik um 1900. Husum: Matthiesen Verlag, S. 65-85.