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Medizinphilosophie

Gesundheit und Kranksein in der modernen Welt

Cornelius Borck

Gesundheit und Kranksein sind zentrale Dimensionen menschlichen Lebens, entsprechend vielfältig sind die kulturellen Vorstellungen zu Krankheiten und ihren Ursachen. Diese zentrale Stellung der Frage nach Gesundheit und Kranksein darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Medizin erst in jüngster Zeit ihre alles überragende Vormachtstellung im Umgang mit Gesundheit errungen hat. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert hatten nur kleine Teile der Bevölkerung Zugang zu wissenschaftlich ausgebildeten Ärzten, und erst im 20. Jahrhundert avancierte die Medizin zur zentralen Instanz nicht nur für Gesundheitsstörungen, sondern für praktisch alle Fragen, die das menschliche Leben als biologisches Phänomen betreffen.

Gleichwohl konnte sich innerhalb der Philosophie der Bereich von Krankheit und Gesundheit lange Zeit nicht als eigenständiges philosophisches Arbeitsgebiet etablieren, und auch die heutige Medizin steht philosophischen Reflexionen oft eher reserviert gegenüber, sobald sie den Bereich medizinethischer Überlegungen übersteigen. Dabei fordert Medizin zur Reflexion heraus, weil sie noch nie so umfassend und leistungsfähig war wie heute. Sie interveniert ebenso in die individuelle Erfahrung von Kranksein wie in die kulturelle Wahrnehmung von Gesundheit und aufgrund ihrer Fortschrittsorientierung verändert sie sich permanent.

Das lässt es besonders aussichtreich erscheinen, das philosophische Nachdenken über Medizin historisch auszurichten, d.h. als historische Epistemologie ihrer heutigen Wissensordnungen, Verfahrensweisen und Legitimationsstrategien anzulegen. In dieser Perspektive erscheint z.B. die Entwicklung und weltweite Durchsetzung der Evidenz-basierten Medizin (EBM) als grundlegende epistemische Transformation der Medizin, auch wenn sie heute oft als einzig denkbare Form ihrer Praxis wahrgenommen wird – mit enormen Folgen für Therapeut:innen wie Patient:innen.

Die gegenwärtigen Forschungen in der Präzisionsmedizin lassen sich epistemologisch als Bemühen beschreiben, das epistemische Ideal pathophysiologischer Kausalität mit den Erkenntnissen aus Multi-Omics zu erreichen.

Siehe auch:

 

Publikationen:
Borck C (2021) Wirksame Medizin – Eine Historische Epistemologie der evidenzbasierten Medizin als Ausgangsort für Medizinphilosophie. In: Orsolya Friedrich & Claudia Bozzaro (Hg.): Philosophie der Medizin. Paderborn: Brill mentis, S. 87-108.

Borck C (2020) Negotiating Epistemic Hierarchies in Biomedicine: The Rise of Evidence-Based Medicine. In: Moritz Epple, Annette Imhausen, Falk Müller (Hg.): Weak Knowledge: Forms, Functions, and Dynamics, Frankfurt: Campus Verlag, S. 449-482.

Borck C, Busch H (2018) Personalisierte Medizin – unsere Gesundheit im Umbruch. GuP Gesundheit und Pflege, Rechtszeitschrift für das gesamte Gesundheitswesen 8(5): 165-169.

Borck C (2018) Schiffbruch auf dem Datenozean medizinischer Information: Die Präzisionsmedizin der Zukunft, die Effizienz der modernen Medizin und das vergessene Können Heilkundiger. In: Daniela Ringkamp, Héctor Wittwer (Hg.): Was ist Medizin? Der Begriff der Medizin und seine ethischen Implikationen, Freiburg: Alber, S. 57-78.

Borck C (2016) Medizinphilosophie zur Einführung. 2. überarbeitete und um ein Nachwort ergänzte Aufl. 2021. Hamburg: Junius

Borck C (2016) Transformation der Medizin zur Biomedizin. In: Schaede, Stephan/ Rainer Anselm/ Kristian Köchy (Hg.): Das Leben: Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd. III, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 235-239.

Borck C (2012) Welche Debatte um Priorisierung in der medizinischen Versorgung brauchen wir? What kind of debate on prioritisation do we need for the benefit of our health system and society?. ZEFQ - Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 106(6): 383-385.

Borck C (2012) Das Paradox der Vertrauenskrise. Eine kleine Epistemologie von Wissen und Können in der Medizin, Nach Feierabend: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 8: 65-84.

Borck C (2010) Interpreting Medicine: Forms of Knowledge and Ways of Doing in Clinical Practice. In: Peter K. Machamer and Gereon Wolters (Eds.): Interpretation: Ways of Thinking About the Sciences and the Arts (Eigth Pittsburg Constanz Colliqium on Philosophy of Science), Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, pp. 179-202.