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Neuroimaging and Critical Neurosciences

Zum menschlichen Selbstverständnis in Zeiten von Neuroculture

Cornelius Borck

Hirnforschung und Neurowissenschaften haben in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder steile Konjunkturen durchlaufen. Eine wesentliche Rolle spielten dabei regelmäßig Verfahren und technische Entwicklungen, welche die Aussicht eröffneten, Fragen nach dem menschlichen Selbstverständnis auf eine neue naturwissenschaftliche Basis zu stellen. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts hatte Emil du Bois-Reymond die Frage nach dem Zusammenhang von Seele und Gehirn zu den großen, aber unlösbaren wissenschaftlichen Rätseln erklärt. Hundert Jahre später erklärte der amerikanische Präsident das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zur „decade oft the brain“ und neue bunte Bilder vom „Gehirn bei der Arbeit“ erregten große öffentliche Aufmerksamkeit. Inzwischen haben die weltweit intensivierten Forschungsanstrengungen enorme Datenmengen über die verschiedensten Aspekte des Gehirns und seiner Funktionsweise entstehen lassen, aber bislang scheint sich an der Berechtigung zur Skepsis wenig geändert zu haben: Wir wissen heute zwar unendlich viel mehr über das Gehirn als seinerzeit du Bois-Reymond, müssen aber seinem Diktum „ignoramus et ignorabimus“ weiterhin zustimmen.Wenn „wir es nicht wissen und (vermutlich) es niemals wissen werden“, erscheint Wissenschaftskritik auf dem Felde der Hirnforschung besonders dringlich, insbesondere auch, weil das dort entwickelte Wissen vielfältige Effekte in modernen Gesellschaften hat – von Ökonomie und Werbung über den Umgang mit psychiatrischen Störungen bis hin zum Rechtssystem.

In welcher Weise es der Hirnforschung gelingen wird, Fragen nach dem menschlichen Selbst auf neurowissenschaftliche Basis zu stellen, bleibt vorläufig offen, aber schon heute zeichnen sich vielfältige gesellschaftliche Effekte dieser Forschungen ab: Wir leben im Zeitalter der Neuroculture. Critical Neuroscience hinterfragt diese Dynamik und versteht sich als kritische Begleitung des Forschungsalltags bzw. als argumentative Intervention in die gesellschaftliche Debatte über dessen Ergebnisse.

Während meiner Zeit in Montreal hatte ich Gelegenheit, mit der Critical Neuroscience Group zusammenzuarbeiten (woraus der Artikel im Handbuch hervorgegangen ist), in der Folgezeit ist eine Reihe von mehr reflektierenden Aufsätzen zur Aufgabe von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftskritik entstanden.