Blog zum Studium generale der Universität zu Lübeck

Netto-Null Emissionen können nicht klimaneutral sein, Schäden bleiben weiterhin wirksam

Klimaneutralität

Reichen Netto-Null CO2-Emissionen? Probleme klimapolitischer Zieldefinitionen

Der Begriff Klimaneutralität scheint sich als Zielbestimmung der Klimapolitik durchzusetzen. Die europäische Wirtschaft soll bis 2050, also in 30 Jahren klimaneutral werden. Darauf haben sich die EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet.1 Klimaneutralität beinhaltet eine hoffnungsvolle Vision, dass die Gesellschaft, die Wirtschaft, das Leben überhaupt aufhört, klimaschädlich zu sein.

Diese Vision ist aus der Einsicht geboren, dass wir überhaupt nicht klimaneutral leben, sondern in verschiedenster Weise schädliche Treibhausgas-Emissionen verursachen, die zur Erhitzung des Klimas und zu globalen Schädigungen beitragen. Alle, die von dieser Einsicht bewegt sind, hoffen, dass es möglich sei, klimaneutral zu leben. Es wäre ein Ausweg aus einer beschämenden Lage.

Was bedeutet es aber, dass eine Stadt, ein Land, die EU, die Wirtschaft, eine Firma (etc.) klimaneutral ist? Häufig wird es so erklärt, die gemessene Einheit müsse auf Netto-Null Treibhausgas-Emissionen kommen. Netto Null bedeutet, dass nur so viel emittiert werden darf, wie auch resorbiert werden kann.2

Wenn das aber so ist, wird es schon wieder ungemütlich. Netto-Null Emissionen bedeutet, dass nicht noch mehr Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen werden. Wenn neue Emissionen alle durch neue Reduktionen aufgehoben werden, also eine Netto-Null an Emissionen erreicht wird, ist die Kurve der CO2-Konzentration erst flach, d.h. sie steigt nicht mehr. Weil sie bis heute exponentiell ansteigt, wäre das ein dringend notwendiger und bedeutender Fortschritt. Aber wir müssen es klar sehen, es kann noch nicht das Ziel sein. Denn das Klima würde sich ab dem Zeitpunkt nur nicht mehr weiter erwärmen. Wie viel werden wir bis 2050 das Klima aber schon erwärmt haben? Wenn es dann plus 1,5 oder plus 2 Grad sein wird, wäre es ungefähr das Doppelte an Klimaerwärmung, als wir jetzt schon spüren und am Schmelzen der Arktis, der Gletscher, der Wirbelstürme, Dürren und Extremwetter bemerken.

Netto-Null Emissionen kann also keineswegs klimaneutral sein, weil die Schäden weiter wirksam bleiben, die mit dem dann erreichten Niveau der Klimaerhitzung in Kauf genommen wurden.

Klimaneutralität, möchte ich argumentieren, beinhaltet eine weitergehende Vision. Nämlich die Vision eines Lebens, das klimaverträglich ist. Wir müssen also daraufhin wirken, dass Klimaschäden wieder rückgängig gemacht werden. Die Städte, Länder, Firmen, die Wirtschaft, die EU, die Weltgesellschaft müssen deshalb auf Netto-Minus Emissionen kommen, damit sich Klimaneutralität einstellen kann.

„Klimaneutral“ ist einerseits ein politisches Zauberwort. Wir dürfen die Vision einer ökologisch und weltpolitisch verantwortbaren Lebensform, die in der Idee der Klimaneutralität steckt, nicht durch die Gleichsetzung mit Netto-Null verwässern lassen. Nur dann ist es ein Plan zur Heilung der Wunde, nicht nur ein Stopp ihrer weiteren Ausbreitung.

Klimaneutralität ist andererseits ein ethischer Begriff, den man ernst nehmen muss. Er beinhaltet den Schutz des Klimas auf einem Niveau, das verantwortbar ist und nicht als gefährlich angesehen werden muss. Man kann daher Netto-Null und Klimaneutralität nicht gleichsetzen. Netto Null ist Teil der Lösung, aber nicht die Lösung.

Autor: Christoph Rehmann-Sutter


1 Ursula von der Leyen: State of the Union Address, 16 September 2020 (https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_20_1657; abgerufen am 21. September 2020)
2 Rogelj, Joeri et al. 2015: Zero emission targets as long-term global goals for climate protection. Environ. Res. Lett. 10: 105007.


Null CO2-Emissionen – eine Konkretisierung aus Sicht der Wissenschaft

„Klimaneutralität“, „Netto-Null“ und „Netto-Minus“ sind zentrale Begriffe des Blog-Beitrags von Prof. Dr. Rehmann-Sutter. Er führt uns vor Augen, dass es nicht genügen wird, „nur“ die Emissionen der Treibhausgase einzustellen. Letzteres ist bereits ein hohes Ziel und manche mögen selbst das nicht für realistisch halten. Die wissenschaftlichen Fakten lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass wir – auch ganz egoistisch anthropozentrisch motiviert – diese Ziele erfüllen und die Erderwärmung zwingend unter 2°C begrenzen sollten.

Zielen zuzustimmen, fällt so lange vergleichsweise leicht, wie man nicht zur Konkretisierung gezwungen bzw. von Maßnahmen betroffen ist. In meinem Beitrag möchte ich darlegen, wie diese Konkretisierung aus Sicht der Wissenschaft aussehen muss. Die Kernaussage ist leicht verständlich und sei hier schon verraten: Noch können wir das Pariser Klimaziel erreichen, aber dafür braucht es ambitioniertere Ziele, deren Erreichung zudem außer Frage stehen muss.

Grob beschrieben lässt sich der Treibhauseffekt folgendermaßen zusammenfassen: Ein großer Teil der von der Sonne hauptsächlich im sichtbaren Wellenlängenbereich eingestrahlten Energie wird an der Erdoberfläche absorbiert und mit einer größeren Wellenlänge in Form von Wärme (thermisches Infrarot) wieder abgestrahlt. Auf dem Weg in Richtung Weltall fangen Wasser und sogenannte Treibhausgase diese Strahlung ab und reflektieren die Energie wieder zurück zur Erde.

Die Temperatur auf der Erdoberfläche bleibt konstant, wenn die eingestrahlte Energiemenge der ins Weltall entweichenden Energiemenge entspricht. Ändert sich die Konzentration der Treibhausgase, so ergibt sich auch eine Änderung der Temperatur auf der Erde. Da die Treibhausgase in der Atmosphäre sehr stabil sind, führen anthropogene Emissionen zu einer Aufsummierung der Treibhausgase. Diese Summe (!) ist entscheidend für die resultierende Erdtemperatur – und nicht etwa eine jährliche Emission.

Zwar sind Treibhausgase, die im sogenannten atmosphärischen Fenster absorbieren – einem Wellenlängenbereich, in denen die Strahlung ohne diese Gase ungehindert abgestrahlt würde – besonders potente Klimagase. Da Kohlendioxid vom Menschen aber in großem Maße freigesetzt wird, spielt dieses für den Klimawandel eine herausragende Rolle. Die Emissionen anderer Treibhausgase wie Methan, Lachgas und F-gase werden in sogenannte CO2-Äquivalente umgerechnet und lassen sich so mit denen von CO2 zusammenfassen.

Die Klimadynamik ist komplex und von Rückkopplungsmechanismen geprägt. Viele davon sind sich positiv verstärkende Prozesse. Beispielsweise führt die Erderwärmung dazu, dass Eis schmilzt. Das Eis hatte aber mehr Strahlung reflektiert als das die fortan freigelegte Fläche Wasser oder Land tut. Die Oberfläche absorbiert also mehr Energie, erwärmt sich und führt so zu weiterem Schmelzen von Eis. Derartige Rückkopplungsmechanismen führen dazu, dass sich auch bei sofortigen Einstellen weiterer Emissionen ein Mechanismus einstellt, der die Temperatur in die Höhe schnellen lässt. Wissenschaftler warnen eindringlich, dass die globale Erdtemperatur sogenannten Kipppunkte in keinem Fall erreichen sollte 1.

In der Vereinbarung von Paris hat die politische Weltgemeinschaft sich folgerichtig darauf verständigt, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2°C zu limitieren. Auch zwecks Operationalisierung haben die (Klima-)Wissenschaftler des Weltklimarats IPCC zusammengetragen, was dies in der Praxis bedeutet 2. Sie zeigen klar auf, dass die bisherigen anthropogenen Emissionen langfristige (Jahrhunderte bis Jahrtausende) Veränderungen des Klimas bewirken werden. Offensichtlich ist auch, dass sich die Konsequenzen aus 1,5°C Erhöhung sehr wohl von denen aus 2°C unterscheiden – jedes Zehntel-Grad zählt.

Die gute Nachricht des IPCC ist, dass die Menschheit – wissenschaftlich betrachtet – noch eine Chance hat, die Temperaturerhöhung soweit zu begrenzen, dass vermutlich die Kipppunkte nicht überschritten werden. Dazu ist es allerdings erforderlich, die zukünftigen CO2-Emissionen auf eine Gesamtsumme zu begrenzen. Um mit 67% Wahrscheinlichkeit unter 1,5°C zu bleiben, dürfte die Welt ab Anfang 2018 noch 420 Gt CO2 emittieren, bei 1,75°C verblieben ca. 800 Gt (1 Gt = 1 Millarde Tonnen). Die derzeitigen weltweiten Emissionen liegen in der Größenordnung von 40 GtCO2 pro Jahr 3. Die Emissionen des Jahres 2018 lag in der gleichen Dimension wie die Jahre zuvor – eine deutliche Reduktion zeichnet sich bisher nicht ab. Der Logik eines Budgets folgend rächt sich aber ein wenig ambitioniertes Herangehen in frühen Jahren mit entsprechend radikalerem Reduktionsbedarf zu späterer Zeit.

Nun zu Netto-Null, Netto-Minus und Negativ-Emissionen. Der Weltklimarat zeichnet Szenarien auf, in denen die weltweiten Emissionen sehr steil bis ins Jahr 2050 auf Netto-Null reduziert werden. Aber auch dabei gehen die Wissenschaftler davon aus, dass die Erderwärmung temporär über die maximal avisierten 1,5°C hinausgehen wird 2. Folglich muss dem Netto-Null ein Netto-Minus folgen, in denen CO2 der Atmosphäre entzogen wird („negative Emissionen“). Der Bericht beschreibt vier Szenarien (P1 bis P4), die zwar theoretisch zu einem ähnlichen Gesamtergebnis führen, sich allerdings massiv hinsichtlich der zu erwartenden „Kollateralschäden“ unterscheiden. P1 setzt auf eine sehr schnelle und konsequenter Transformation des menschlichen Handelns und Wirtschaftens inklusive sozialer Umgestaltung. Auf dem anderen Ende der Skala geht P4 weiterhin von Wirtschaftswachstum aus und setzt hinsichtlich des Klimaschutzes weitgehend auf technische Lösungen.

Bleibt in Zukunft ein Rest an Emissionen, der sehr schwierig oder nicht zu vermeiden ist, muss dieser durch Negativ-Emissionen kompensiert werden.  Als Verfahren kommt u.a. die Nutzung natürlicher Prozesse in Frage. Kohlenstoff lässt sich durch Aufforstung, durch Einbringung von Kohlenstoff in den Boden und durch Ozeandüngung im Meer fixieren. Die so erreichbaren Kompensationen genügen allerdings allenfalls im Szenario P1 für die erforderlichen Kompensationen. In den Szenarien P2 bis P4 hingegen wird eine CO2 Abscheidung und Verpressung (Carbon Capture Storage, CCS) erforderlich. Nennenswertes Potenzial entfaltet CCS aus Klimaperspektive auch nur dann, wenn der Kohlenstoff zuvor durch den Anbau von Bioenergiepflanzen fixiert wurde und das bei der Verbrennung freigesetzte CO2 aufgefangen und verpresst wird (BECCS).

Auch wenn der Mensch offenbar gerne an technische Lösungen glaubt, kann BECCS nicht die priorisierte Lösung sein. Beide Teile der Abkürzung sind kritisch zu betrachten: Der Einsatz von CCS ist mit erheblichen Sicherheitsrisiken verbunden, es besteht nur begrenztes Speicherpotenzial und die Verfahren sind sehr teuer 4. Aber auch die Erzeugung von Energiepflanzen (Bioenergie, BE) geht mit erheblichen negativen Umweltwirkungen einher. Alleine der Flächenverbrauch wäre gigantisch und läge z.B. für P4 im Jahr 2050 bei 7,2 Millionen km² 2 (zum Vergleich: die heute weltweit genutzte Ackerfläche beträgt ca. 15 Millionen km² 5).

Was heißt das nun für Europa, für Deutschland oder für eine Stadt wie Lübeck? Das soll Gegenstand eines weiteren Beitrages sein. Als Schlussfolgerung an dieser Stelle bleibt, dass es weder genügen wird, die Emissionen auf Netto-Null zu reduzieren, noch werden potenzielle Negative Emissionen den Zwang zur Einstellung von Emissionen nennenswert abmildern.

Autor: Norbert Reintjes


1  IPCC. Climate Change 2013: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. (2014).
2  IPCC. Technical Summary. In: Global warming of 1.5°C. An IPCC Special Report on the impacts of global warming of 1.5°C above pre-industrial levels and related global greenhouse gas emission pathways, in the context of strengthening the global response to the th. (2019).
3  Global Carbon Project. CO2 Emissions | Global Carbon Atlas. www.globalcarbonatlas.org/en/CO2-emissions (2020).
4  Sachverständigenrat für Umweltfragen. Für eine entschlossene Umweltpolitik in Deutschland und Europa. (2020).
5  FAOSTAT. Cropland area 2018. www.fao.org/faostat/en/ (2020).


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