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Medikamentenversuche

Gefördertes Projekt von 2018 bis 2020

Das Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck forschte zwischen Oktober 2018 und November 2020 im Auftrag des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren Schleswig-Holstein zu Medikamentenversuchen in Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie in den psychiatrischen Kliniken im Bundesland in den Jahren 1949 bis 1975. Dazu werteten die Projektbearbeiter neben zeitgenössischen Fachzeitschriften vor allem Akten der im Untersuchungszeitraum für die Landeskrankenhäuser (LKH) zuständigen Ministerien sowie Patientenakten des ehemaligen Landeskrankenhauses Schleswig und der Psychiatrischen Klinik der Universität Kiel aus. Zusätzlich konnten in Archiven pharmazeutischer Firmen (Bayer, Merck, Novartis, Schering) Unterlagen zu Medikamententestungen und Medikamentenanwendungsstudien gesichtet werden.

Insgesamt konnten 43 Medikamentenerprobungen vor Markteinführung und 37 Anwendungsbeobachtungen von Arzneimitteln nach Markteinführung nachgewiesen werden, die in den Landeskrankenhäusern Schleswig, Neustadt und Heiligenhafen, in den kirchlichen Einrichtungen in Rickling und Kropp sowie in der Uniklinik Kiel und dem Städtischen Krankenhaus Lübeck durchgeführt worden waren. Insbesondere für das LKH Sc heswig und die Universitätspsychiatrie Kiel waren zahlreiche Medikamentenerprobungen und Anwendungsbeobachtungen nachweisbar. Im untersuchten Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Abteilung Hesterberg waren insgesamt 17 Medikamentenerprobungen und Anwendungsbeobachtungen nachweisbar, während in den betrachteten Einrichtungen für Erwachsene 63 Medikamentenerprobungen und Anwendungsbeobachtungen identifiziert werden konnten.

Zeitgenössische Quellen verdeutlichen, dass diese Medikamentenversuche keine heimliche, sondern eine öffentlich bekannte und verbreitete Praxis war. Ethische oder rechtliche Bedenken waren weder von Herstellerseite noch von Seite der klinisch Tätigen und der Aufsichtsbehörden nachweisbar. Bis zur Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes von 1976 war die Prüfung von Medikamenten zwar keinen detaillierten Rechtsregelungen unterworfen. Bereits damals waren jedoch eine Aufklärung und die Einwilligung durch die Betroffenen bzw. durch die gesetzlichen Vertreter:innen ethisch und rechtlich erforderlich. Trotz der Formulierung entsprechender ethischer Prinzipien (Nürnberger Kodex 1947, Deklaration von Helsinki 1964) ließen sich keine Hinweise auf Aufklärung und Einwilligung in den Quellen finden. Unerwünschte Wirkungen hingegen wurden beobachtet, dokumentiert und billigend in Kauf genommen. Ebenso wurde schon damals bekannt, dass der Medikamenteneinsatz langfristige negative Folgen für die Patient:innen haben konnte.

Deshalb hat das Lübecker Forschungsteam den komplexen historischen Handlungskontext der Medikamententests, d.h. die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Wahrnehmung der behördlichen Aufsichtspflicht, Veränderungen im institutionellen Setting und die Entwicklung des ärztlichem Berufsethos rekonstruiert. Im Projekt wurde danach gefragt, wie sich die konkreten Bedingungen der Medikamentengabe und von Medikamentenversuchen in den jeweiligen Einrichtungen gestaltet haben. Speziell für die Rekonstruktion der rechtlichen Rahmenbedingungen und der Entwicklungen der Rechtsprechung im Untersuchungszeitraum konnte der Kieler Rechtshistoriker und Medizinrechtler Prof. Sebastian von Kielmansegg gewonnen werden.

Insgesamt zeigte sich, dass Medikamententestungen und generell die Verabreichung von Psychopharmaka sowohl in der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie als auch in der Behindertenhilfe eine weit verbreitetet und weitgehend unhinterfragte, aber bereits aus damaliger Sicht zweifelhafte Praxis war.

Zum Thema Medikamentenversuche liegt inzwischen ein umfangreicher Abschlussbericht vor.

Viele Interviewpartner:innen verbinden den Einsatz von Medikamenten mit leidvollen Erinnerungen. Diese sind Gegenstand einer weiteren Untersuchung.

Der dem Landtag Anfang 2020 vorgestellte Zwischenbericht stieß auf großes öffentliches Interesse und hat auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, die Arzneimittelversuche nicht isoliert zu betrachten, sondern ebenfalls die damaligen Umgangsweisen mit psychisch kranken Menschen zu untersuchen. Im November  2019 wurde deshalb ein Folgeprojekt gestartet, das die psychiatrische Praxis und das von den Kindern und Jugendlichen erlebte Leid und Unrecht im Rahmen von Unterbringungen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig-Holstein in der Zeit von 1949 bis 1990 erforscht.

Projektteam
Projektleitung: Prof. Cornelius Borck, Prof. Gabriele Lingelbach
Projektmitarbeiter: Jonathan Holst, Dr. Christof Beyer, Prof. Sebastian von Kielmansegg (für den rechtshistorischen Beitrag)