Zeitgeschichte der Psychiatrie
Psychiatrie gehört zu den vergleichsweisen intensiv bearbeiteten Feldern der Medizingeschichte. Das gilt insbesondere für die Psychiatrie während der Zeit des Nationalsozialismus, während für die anschließende Zeit bisher erst vergleichsweise wenige Arbeiten vorliegen. Auf lokalhistorischer Ebene hat sich Horst Dilling (1933-2020), ehemaliger Direktor der psychiatrischen Klinik der Universität zu Lübeck, besondere Verdienste erworben, der Arbeiten zur Entstehung der Lübecker Psychiatrie initiierte und der sich insbesondere für die Rekonstruktion des Schicksals psychiatrischer Patient:innen während der NS-Zeit eingesetzt hat.
Die Lübecker Psychiatriegeschichte war auch Gegenstand in der DFG-Forschungsgruppe Kulturen des Wahnsinns. Im Teilprojekt „Dokumente des Wahnsinns: Fabulieren und Querulieren in Literatur und Psychiatrie“ hat Sonja Mählmann in einer Mikrostudie die Aufschreibepraktiken in der damaligen Reformheilanstalt Stecknitz untersucht.
Die Ausgrenzung und Ermordung psychiatrischer Patient:innen während der Zeit des Nationalsozialismus war Gegenstand der studentischen Initiative „plötzlich weg“ im Jahr 2021 anlässlich der 70. Wiederkehr der Deportation von über 600 Menschen.
In ihrem derzeit laufenden Desertationsprojekt rekonstruiert Alison Dörnte den psychiatrischen Alltag in der Nachkriegszeit, als aus der Heil- und Pflegeanstalt Stecknitz nach der Deportation der psychiatrischen Patienten in die sogenannte Euthanasie ein allgemeines städtisches Krankenhaus mit psychiatrischer Abteilung geworden war.
Die Nachkriegsgeschichte der Psychiatrie in Schleswig-Holstein war Gegenstand von zwei Forschungsprojekten im Auftrag des Sozialministeriums des Landes Schleswig-Holstein. Zuerst untersuchte ein Team unter der Leitung von Cornelius Borck und Gabriele Lingelbach die Praxis der Medikamentenversuche in dem Jahre 1949 bis 1975.
In einem zweiten Untersuchungsauftrag wurden die Erfahrungen von Leid und Unrecht von Kindern und Jugendlichen im Zeitraum von 1949 bis 1990 untersucht.
Die Psychiatriegeschichte der Nachkriegszeit war ebenfalls das Thema der Dissertation von Frau Dr. Bettina Schubert. Unter dem Titel „Psychiatrie im Wiederaufbau“ hat sie am Beispiel des Landeskrankenhauses Neustadt in Holstein Kontinuitäten und Reformen rekonstruiert.
Die psychosomatische Klinik der Universität zu Lübeck (heute ein Abteil der psychiatrischen Klinik), die unter der Leitung von Hubert Feiereis ins ganze Bundesgebiet ausstrahlte, war Gegenstand der Doktorarbeit von Edith Hansen „Hubert Feiereis und die Geschichte der Psychosomatik in Lübeck“.
Das Feld des Psychiatrischen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist das zentrale Thema der laufenden DFG Forschungsgruppe „Normal#Verrückt“, an der Cornelius Borck, wiederum in Kooperation mit Armin Schäfer (Ruhruniversität Bochum) mit dem Teilprojekt „Alterität und Störung in Psychiatrie und Literatur seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts“ beteiligt ist.
In einzelnen Aufsätzen hat Cornelius Borck weitere Aspekte der psychiatrischen Zeitgeschichte behandelt, von der Diskussion um psychiatrische Schockverfahren über Helmut Selbachs Krisentheorie psychiatrischer Phänomene bis zu Viktor Emil von Gebsattels „Aufstieg zum Deuter des Zeiterlebens“.