Wissenschaftsgeschichte und Historische Epistemologie
Formen des Wissens im kulturellen Kontext
Wer nach der Historizität von Wissen fragt, rechnet damit, dass es anders sein könnte. Das impliziert einen Möglichkeitssinn, der historische Bedingungen immer schon im Hinblick auf Alternativen, auf Abzweigungen und andere Zukünfte befragt. Nur auf den ersten Blick widmet sich Wissenschaftsgeschichte allein der Vergangenheit.
Offenbar gilt für Wissenschaftsgeschichte wie für andere Disziplinen, dass ihre Programme und Projekte Trends und Tendenzen durchlaufen. Insofern Wissenschaftsgeschichte mehr sein soll als eine Normalwissenschaft, muss sie solche Konjunkturen als konstitutiv für ihren epistemologischen Anspruch begreifen, zusammen mit der Genese fachlichen Wissens auch noch die Regeln für dessen Anerkennung zu historisieren und aus den historischen Bedingungen freizulegen. Hierin liegt die Sprengkraft einer radikalen Historisierung wissenschaftlicher Praktiken.
In Zeiten einer umfassenden Evaluation von Forschung nach „Impactfaktoren“ und einer Finalisierung von Wissenschaft im Hinblick auf ihre Vermarktungsfähigkeit muss ihre historisch-kritische Rekonstruktion auf andere Modelle von Nutzen setzen, will sie nicht der Verwechslung von Wissen mit Verwertbarkeit anheimfallen. Der Nutzen wissenschaftshistorischer Forschungsergebnisse für gegenwärtige Handlungsfelder soll damit keineswegs in Abrede gestellt werden, aber er bemisst sich in der konkreten Durchführung als das nachvollziehbare Sich-Bewähren eines konkret aufgewiesenen Problemzusammenhanges: Ganz gleich, ob es sich um die immer raschere Abfolge neuer sogenannter ,turns‘, die radikale Historisierung so zentraler Kategorien wie Objektivität und Experiment oder die Erweiterung der Wissenschaftsgeschichte um neue Akteursgruppen und bislang fremde Räume des Wissens handelt, kennzeichnet diese Bewegungen gleichermaßen, dass die Position des Beobachters ins Feld selbst verlegt wird.
Ein solches Unterfangen ist nicht ohne historisches Vorbild. Wissenschaftsgeschichte beruft sie sich inzwischen immer öfter auf Ludwik Fleck, der im multilingualen Lemberg der Zwischenkriegszeit die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache sondierte – was auf dem Umweg über die USA zu Thomas Kuhns und von dort nach Europa zurückführte.
Aber wie lässt sich Wissenschaftsgeschichte so historisieren, dass sie in aller gewünschten Professionalisierung nicht zur Normalwissenschaft verkümmert, sondern ihren Einsatz immer wieder neu wagt?
Wissenschaftsgeschichte ist als Disziplin akademischen ,Nach-Denkens‘ purer Luxus in der Ökonomie des Lebens. Sie historisiert und relationiert die Wahrheiten der verschiedensten Fachwissenschaften, weil historische Kontextualisierungen davor zu schützen versprechen, von den nächsten wissenschaftlichen, technischen oder sozialen Innovationen überwältigt zu werden und nichts als Ökonomie übrig zu lassen.
Aber nicht erst Wissenschaftsgeschichte ist ein nachträgliches Projekt, sondern Wissenschaft selbst ist nichts Ursprüngliches. Wissenschaftsgeschichte darf sich ihrer Sache nicht zu sicher sein, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Im besten Fall eignet ihr eine Kreativität, die sich aus einem profunden Misstrauen gegenüber allem Selbstverständlichen speist, wie dies schon Hans Blumenberg anlässlich der Annahme des Sigmund-Freud-Preises formuliert hatte: „Nachdenklichkeit heißt: Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.“